Abgründige Elegie
Nachdem Auxilio von den Bergen Zarathustras herabgestiegen ist, ohne verrückt zu werden, und sich nicht in das „Bettelweib von Locarno“ verwandelt hat, denkt sie wieder an Arturito Belano (der jugendliche Bolaño selbst) und daran, dass er Ulises Lima (Mario Santiago Papasquiaro) kennenlernte. Arturito hielt sich für Dante, ja Vergil selbst. Auffällig ist hier der Bezug zu „DwD“, weil sowohl seine Freundin Laura Jáuregui (2x), als auch Felipe Müller (1x) als Zeugen auch dort auftauchen, aber Auxilio entspringt ja selbst dieser Quelle. Der ironische Abstand Bolaños zu seiner eigenen Vergangenheit sticht ebenfalls hervor. Die Ungenauigkeit des Toilettenaufenthaltes Auxilios, 3 Wochen, 13 Tage, 10 Tage, erinnert mich an das von Bolaño zitierte Gedicht Nicanor Parras über die vier großen Dichter Chiles:
Die vier großen Dichter Chiles
Sind drei:
Alonso de Ercílla und Rubén Dario
Wie heißt die kürzeste Formel für eine Toilette, auf der Rilke und Kafka gleichzeitig sitzen? „Duineser Schloß (S. 153).“ Auxilio sehnt sich nach einem Leben voll schöner Dinge und Liebe, das sie mit dem der Schriftstellerin Juana de Ibarbourou vergleicht. Dann aber fließen nicht nur Freudentränen, sondern auch traurige und mit Proust wird die „verlorene Zeit“ beweint. Sie ist die Erinnerung, auf Toilettenpapier geschrieben, das sie vernichtet und den Tod als Strafe dafür erwartet. Aber sie wird schließlich von einer Sekretärin entdeckt, das Militär ist abgezogen. Ihre Geschichte wird zur Legende, was bleibt ist ihre Liebe zu den jungen, dichtenden Grünschnäbeln, denn „meine Liebe gehört ihnen allen.“. Dann imaginiert sie sich wieder in diese danteske, an Nietzsche oder Rulfo erinnernde Szenerie des Gebirges und des gewaltigen, letzten Tal des Todes. Ein Spatz und ein Quetzal, vielleicht ein unbekannt dichtender Niemand und der farbenprächtige Dichtergott, sitzen gemeinsam auf demselben Ast. Natürlich kann man hier auch philosophisch werden und von Gut und Böse philosophieren, aber das überlasse ich anderen. Dann aber öffnet sich ein gähnender Abgrund á la Poe, in den alle jungen Dichter Lateinamerikas fallen wie die Lemminge. Mit diesem Fallen in den Abgrund assoziiere ich die Zeichnung „Deutsches Verhängnis“ von A. Paul Weber. In einer Art janusköpfigen Spiegel sieht Auxilio sich selbst und auf der anderen Seite (Alfred Kubin: „Die andere Seite“) alle namenlosen, tapferen, jungen Dichter Lateinamerikas. Mit ihrer Lyrik singen sie gemeinsam ein Lied, diese Kinder ziehen in den Krieg. Kein politischer Krieg, ein Krieg gegen den Tod, das Vergessen und das Nichts, den sie zwangsläufig verlieren müssen. Aber „das Echo des Nichts“, dieses Lied, das auch von der Liebe singt, bleibt Als Zeichen ihrer und auch Auxilios Erinnerung wie ein Amulett zurück, also das was wir mit diesem Buch in unseren Händen halten.
„In gleißendem Licht“ habe ich „Amuleto“ nun zu Ende gelesen. In der Frühlingssonne, im Krankenhauspark, in einem dort aufgestellten Strandkorb. Pathetisch solle der Schluss sein, nicht mehr so gut wie der Anfang las ich kürzlich in einer Kritik, nur noch mäandernd. Nichts von alledem. Mir wurde wässrig zumute, weit hinter meinen Augen. Nicht weil vom Tod und vom Nichts die Rede war, nein, weil Bolaño so anrührend ergreifend von der Sinnlosigkeit erzählt, dabei aufrichtig bleibt und durch das Erzählen der Sinnlosigkeit gleichzeitig widerspricht. Klingt banal, so wie die Aussage, dass das Tal des Todes auf uns alle wartet. Auxilio mag sich zur „Mutter der mexikanischen Poesie“ berufen fühlen, Bolaño aber singt kein lateinamerikanisches Lied mehr. Er singt ein neues, ganze Kontinente umspannendes Lied, auch wenn er nur von Ereignissen und Schicksalen in Mexiko berichtet. Er selbst war längst ein Kosmopolit geworden, der das menschlich Verbindende selbst in der grausamsten Gewalt suchte.
One Response to “Abgründige Elegie”
Wird denn das Massaker von Tlatelolco mit den vielen Toten (S.25) und „der Fall Allendes“ (S.68), der Putsch Pinochets in Chile mit allen seinen Folgen, am Schluss heruntergespielt und das Ganze ins Universelle entpolitisiert? Das so zu sehen, wäre, glaub ich, nicht die ganze Wahrheit über diesen Schluss.
„Dieses Lied, es ist das Zeichen unserer Erinnerung, unser Amulett.“ (S.163)
So lautet der letzte Satz des Romans. Ich lese ihn nicht so, dass dieses „Amulett“ damit ausschließlich als Erinnerungszeichen aufzufassen wäre; das wohl auch. Aber die Bedeutung des Wortes geht ja weiter:
Das vierbändige Lexikon, das mir schon als 14jährigem gute Dienste geleistet hat, weiß dazu zu sagen: „AMULETT (arab.-lat.), Anhänger, dem man magische Kräfte zutraut und den man daher als Schutz gegen Krankheiten, Unfälle, Feinde usw. bei sich trägt; aus allen christl. und außerchristl. Kulturen belegt, als Maskottchen und in ähnlichen Formen heute noch sehr verbreitet.“ (1.Bd., Gütersloh 1957, S.128f.) Auch von meiner frühen Karl-May-Lektüre (der Bücher um Hadschi Halef Omar und Kara ben Nemsi) her ist mir die Verwendung von Amuletten zur (vermeintlichen) Abwehr böser Geister und Widrigkeiten geläufig.
Zwei Vögel (Spatz und Quetzal) als „Symbol“ und „Banner“ der gemeinsam marschierenden, gemeinsam in den Abgrund stürzenden jungen Leute (vgl. B. Brechts Gedicht vom „Kinderkreuzug“) und ihr Lied, das – Auxilio Lacouture und Gleichgesinnten – zum Zeichen der Erinnerung, zum Hilfs-, Schutz- und Abwehrmittel zu werden vermag: BANNER und LIED. These: Im Wort „Amulett“ steckt nicht nur Vergangenheitserinnerung, sondern wider alles Hoffen auch ein verschwiegener Rest von wie auch immer illusionsloser Zukunftshoffnung.
Von der Konstellation wie am Schluss von Nikolaus Lenaus „Freien Dichtungen“ „DIE ALBIGENSER“ ist hier bei „Amuleto“ anderthalb Jahrhunderte später wohl nicht mehr so ganz auszugehen; dennoch dürfte ein Vergleich beider Schlüsse miteinander zumindest heuristisch sinnvoll sein. Hier der Lenausche:
„Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunklen Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim, was jene litten;
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürmer der Bastille, und so weiter.“
(Leipzig 1883, S.669)
Trotz aller in ihrer Schwere voll erfassten Niederlagen aller bisherigen Freiheitsbewegungen der europäischen Geschichte wird hier bei Lenau, dem sprichwörtlichen Weltschmerzdichter des frühen 19. Jahrhunderts, an der Idee der Freiheit und der Vision einer auch durch geschichtliche Rückschläge unbeirrbaren, nicht beugbaren Freiheitsgeschichte festgehalten.
In „Amuleto“ dagegen heißt es auf Seite 97: „Ich weiß, diese Landschaft, dieses gewaltige Tal, das ein bißchen wirkt wie der Hintergrund auf einem Renaissancegemälde, ES WARTET.“ Das Schlusstableau in „Amuleto“ bietet als Szenerie nun tatsächlich ein Tal, ein paradoxes Hochtal, das in einem unauslotbarem Abgrund abschließt, und wir mögen versucht sein, es mit der früheren Tal-Vision umstandslos gleichzusetzen, nur weil danach im Roman nichts mehr kommt. Das Tal, das WARTET, wäre dann ohne weiteres „das Tal des Todes“. Und die Banalität: Der Tod wartet auf uns, unser aller Leben endet im Tod, wäre dann die Quintessenz. Mir scheint indessen, die Doppelung „Tal des Verderbens“ – „Tal des Glücks“ dürfte nicht so einfach aufgegeben werden. Auch nach dem faktischen Ende der jungen Leute im scheinbar vereindeutigten Tal des Todes, im Roman wären das geschichtlich stellvertretend die Jahre 1968 (Mexiko) und 1974 (Chile), WARTET uneingelöst und zumindest als Idee des Glückes unverzichtbar das Tal noch weiter. Im Amuleto-Lied des Endes, einem Lied, das „vor allem von der Tapferkeit, den Spiegeln, der Sehnsucht, der Freude“ „sang“ (S.163), wird wohl all dies Noch-Uneingelöste und Würdemenschlich-Unverzichtbare mitgeschwungen haben.
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Inwiefern übrigens und in welchem Sinne wird in diesem Liede auch von „den Spiegeln“ gesungen?
Dürfen wir, sollen wir uns hier an eine leuchtende Äußerung aus dem 11. Kapitel zurückerinnern?
„wenn man glücklich ist oder das Glück in der Nähe fühlt, dann schaut man ohne Hemmungen in den Spiegel, mehr noch, wer glücklich ist oder sich für die Erfahrung des Glücks prädestiniert fühlt, der neigt dazu, die Waffen zu strecken und willig in den Spiegel zu blicken“ (S.120).
À propos: Sind wir nicht auch schon in Betrachtungen zum Roman „2666“ verschiedentlich auf die auffällige Spiegel-Motivik bei RB zu sprechen gekommen und ihrer möglichen Bedeutung wenigstens ansatzweise nachgegangen?