Wird denn das Massaker von Tlatelolco mit den vielen Toten (S.25) und „der Fall Allendes“ (S.68), der Putsch Pinochets in Chile mit allen seinen Folgen, am Schluss heruntergespielt und das Ganze ins Universelle entpolitisiert? Das so zu sehen, wäre, glaub ich, nicht die ganze Wahrheit über diesen Schluss.

„Dieses Lied, es ist das Zeichen unserer Erinnerung, unser Amulett.“ (S.163)
So lautet der letzte Satz des Romans. Ich lese ihn nicht so, dass dieses „Amulett“ damit ausschließlich als Erinnerungszeichen aufzufassen wäre; das wohl auch. Aber die Bedeutung des Wortes geht ja weiter:
Das vierbändige Lexikon, das mir schon als 14jährigem gute Dienste geleistet hat, weiß dazu zu sagen: „AMULETT (arab.-lat.), Anhänger, dem man magische Kräfte zutraut und den man daher als Schutz gegen Krankheiten, Unfälle, Feinde usw. bei sich trägt; aus allen christl. und außerchristl. Kulturen belegt, als Maskottchen und in ähnlichen Formen heute noch sehr verbreitet.“ (1.Bd., Gütersloh 1957, S.128f.) Auch von meiner frühen Karl-May-Lektüre (der Bücher um Hadschi Halef Omar und Kara ben Nemsi) her ist mir die Verwendung von Amuletten zur (vermeintlichen) Abwehr böser Geister und Widrigkeiten geläufig.
Zwei Vögel (Spatz und Quetzal) als „Symbol“ und „Banner“ der gemeinsam marschierenden, gemeinsam in den Abgrund stürzenden jungen Leute (vgl. B. Brechts Gedicht vom „Kinderkreuzug“) und ihr Lied, das – Auxilio Lacouture und Gleichgesinnten – zum Zeichen der Erinnerung, zum Hilfs-, Schutz- und Abwehrmittel zu werden vermag: BANNER und LIED. These: Im Wort „Amulett“ steckt nicht nur Vergangenheitserinnerung, sondern wider alles Hoffen auch ein verschwiegener Rest von wie auch immer illusionsloser Zukunftshoffnung.
Von der Konstellation wie am Schluss von Nikolaus Lenaus „Freien Dichtungen“ „DIE ALBIGENSER“ ist hier bei „Amuleto“ anderthalb Jahrhunderte später wohl nicht mehr so ganz auszugehen; dennoch dürfte ein Vergleich beider Schlüsse miteinander zumindest heuristisch sinnvoll sein. Hier der Lenausche:
„Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunklen Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim, was jene litten;
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürmer der Bastille, und so weiter.“
(Leipzig 1883, S.669)

Trotz aller in ihrer Schwere voll erfassten Niederlagen aller bisherigen Freiheitsbewegungen der europäischen Geschichte wird hier bei Lenau, dem sprichwörtlichen Weltschmerzdichter des frühen 19. Jahrhunderts, an der Idee der Freiheit und der Vision einer auch durch geschichtliche Rückschläge unbeirrbaren, nicht beugbaren Freiheitsgeschichte festgehalten.
In „Amuleto“ dagegen heißt es auf Seite 97: „Ich weiß, diese Landschaft, dieses gewaltige Tal, das ein bißchen wirkt wie der Hintergrund auf einem Renaissancegemälde, ES WARTET.“ Das Schlusstableau in „Amuleto“ bietet als Szenerie nun tatsächlich ein Tal, ein paradoxes Hochtal, das in einem unauslotbarem Abgrund abschließt, und wir mögen versucht sein, es mit der früheren Tal-Vision umstandslos gleichzusetzen, nur weil danach im Roman nichts mehr kommt. Das Tal, das WARTET, wäre dann ohne weiteres „das Tal des Todes“. Und die Banalität: Der Tod wartet auf uns, unser aller Leben endet im Tod, wäre dann die Quintessenz. Mir scheint indessen, die Doppelung „Tal des Verderbens“ – „Tal des Glücks“ dürfte nicht so einfach aufgegeben werden. Auch nach dem faktischen Ende der jungen Leute im scheinbar vereindeutigten Tal des Todes, im Roman wären das geschichtlich stellvertretend die Jahre 1968 (Mexiko) und 1974 (Chile), WARTET uneingelöst und zumindest als Idee des Glückes unverzichtbar das Tal noch weiter. Im Amuleto-Lied des Endes, einem Lied, das „vor allem von der Tapferkeit, den Spiegeln, der Sehnsucht, der Freude“ „sang“ (S.163), wird wohl all dies Noch-Uneingelöste und Würdemenschlich-Unverzichtbare mitgeschwungen haben.

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Inwiefern übrigens und in welchem Sinne wird in diesem Liede auch von „den Spiegeln“ gesungen?
Dürfen wir, sollen wir uns hier an eine leuchtende Äußerung aus dem 11. Kapitel zurückerinnern?
„wenn man glücklich ist oder das Glück in der Nähe fühlt, dann schaut man ohne Hemmungen in den Spiegel, mehr noch, wer glücklich ist oder sich für die Erfahrung des Glücks prädestiniert fühlt, der neigt dazu, die Waffen zu strecken und willig in den Spiegel zu blicken“ (S.120).

À propos: Sind wir nicht auch schon in Betrachtungen zum Roman „2666“ verschiedentlich auf die auffällige Spiegel-Motivik bei RB zu sprechen gekommen und ihrer möglichen Bedeutung wenigstens ansatzweise nachgegangen?