Abschließende Fragen an G.L.
Welche Zeugenaussagen haben Dir am besten gefallen und warum? (2 auswählen)
Als irgendwie solide erscheinender Strang mit partiell irritierender Schattierung durchzieht so chronologisch, wie intermittierend-überraschend die fortlaufende Zeugenaussage Amadeo Salvatierras (Gottliebs Rette-die-Erde?) den gesamten Hauptteil des Romans „Die wilden Detektive“: Es handelt sich dabei stets und schubweise um das eine ausführliche Gespräch, das Ulises Lima und Arturo Belano im „Januar 1976“ in der „Calle República de Venezuela, Nähe Inquisitionspalast, Mexico DF“ (S.173 usf.) mit ihm, „Amadeo Salvatierra“, geführt haben. Das Gespräch dreht sich im Kern und immer wieder neu um die rätselhafte (Nur-ein-einziges-Gedicht-)Lyrikerin Cesárea Tinajero, die auch sonst in diesem Roman besonders gern dem lyrischen Großschriftsteller Octavio Paz in all seiner von den Viszeralrealisten/Realviszeralisten suggerierten Fragwürdigkeit als ernsthafte, ja überlegene Konkurrenz entgegengesetzt und gegenübergestellt wird. Cesárea Tinajero ist ganz bewusst auch gegen Octavio Paz (gegen das Offizielle, Offiziöse und Anerkannte) die menschlich-künstlerische Bezugsperson Arturo Belanos und Ulise Limas. Von ihnen auserwählt und berlioz-mäßig zur „idée fixe“ erkoren. Von da aus werden die Zeugenaussagen, die sich mit A.B. oder U.L. (getrennt oder mit beiden zusammen) befassen, besonders interessant.
In diesem thematischen Zusammenhang besonders gefallen hat mir die auf Oktober 1995 datierte Zeugenerzählung der (wie sie selber sagt) ehemaligen „Sekretärin von Octavio Paz“, „Clara Cabeza“ (S.637ff). Wie da in ihrer Darstellung Ulises Lima und Octavio Paz miteinander konfrontiert werden, und auf welchem Weg dorthin, ist schon köstlich.
Als faszinierend, weil irritierend anziehend und abstoßend zugleich, empfand ich die Zeugenaussage des seltsamen Österreichers Heimito Künst (S.381ff), der im übrigen so beständig in durchaus bedenklichem Zusammenhang vom „braven Ulises“ spricht. Für österreichische Ohren schwingt das (mit Bezug auf HK, nicht auf RB) unfreiwillig ironisch zwischen „braver Bua“ und französisch „brave“ (=tapfer) hin und her. Überhaupt: die Geschichten, in denen Ulises oder Arturo in augenzwinkernder, epischer Ironie als „Helden“ erscheinen – und es gibt davon einige in DwD (vgl. vor allem die eklatante „Abgrund-“ bzw. Campingplatzwächtergeschichte“, S.544ff.) und eine ganz besondere, mir am besten gefallende in „Amuleto“, die Unterwelt- bzw. Audienzszene, S.79ff. -, haben mir besonders zugesagt.
Schlussendlich: Gäbe es von RB zum Glück nicht auch noch den grandiosen Roman „Amuleto“, in dem „die Mutter der Poeten von Mexico“, Auxilio Lacouture, durchgängig und mitreißend als Ich-Erzählerin zu Worte kommt, hätte ich natürlich gesagt, dass mir deren Zeugenaussage in „DwD“ (S.236ff) ganz besonders gut gefallen hat. Aber da auch hier das Bessere des Guten Feind ist, konnte ich diesmal besten Gewissens auf die Herausstellung dieser Zeugenaussage als einer mir ganz besonders nahekommenden verzichten.
Und so bleibt mir in Beantwortung der Frage nach den beiden mir am besten gefallenden Zeugenaussagen nur der oben schon gegebene Hinweis auf vor allem zwei Erzählgruppen (und darin ab und an nennenswerte Einzelerzählungen) als von mir besonders bevorzugte und herauszuhebende übrig.
Welche Figur ist Dir Nahe gegangen?
Mir ist der Autor nahegegangen, der in all diesen seinen Figuren steckt.
Im Rückblick, hat sich aus den einzelnen Bruchstücken ein stimmiges Ganzes entwickelt?
Ein, wie mir scheint, nicht bloß formales Gerüst hält das Ganze zusammen. (s.o.) Dieses Gerüst befindet sich allerdings nicht auf festem Boden, sondern auf schwankendem. Wie wenn Holzkonstruktionen auf Wasser gelegt, dessen Schwankungen ausgesetzt würden.
War der Schluss befriedigend?
Ähnlich wie in „2666“ lässt sich auch hier nicht eindeutig sagen, was als Roman-Schluss im wahrsten Sinne des Wortes identifikatorisch zu bezeichnen ist. Endet der Roman wirklich mit seiner letzten Seite, die auch der Schluss der durch den Hauptteil unterbrochenen, am Ende wiederaufgenommenen Tagebuchaufzeichnungen Juan García Maderos (I Nov/Dez 1975 – III Jan 1976) ist? Oder endet er der Sache nach bereits mit der zeitlich vorgerücktesten aller Zeugenaussagen, der vom Dezember 1996 (S.700ff.)? Wobei dazwischen sogar noch ein dritter möglicher Schluss angeboten wird, durch den Abschlussteil der zuvor vielfältig durchbrochenen Zeugenaussage von Amadeo Salvatierra vom Januar 1976 (S.702ff.), woran sich allerdings der epiloghafte Madero-Teil („ III Die Wüste von Sonora (1976)“ zumindest zeitlich befriedigend anschließt.
Das zeitliche In-, Mit- und Gegeneinander der Pseudoganz- und Halbschlüsse in „DwD“ und „2666“ fasziniert und gefällt mir – und befriedigt mich somit.
Wie fällt das Urteil im Vergleich zu 2666 aus?
“2666″ ist und bleibt mein Bolaño-Buch. Dennoch bin ich gerade deswegen offen für das ganze Werk und für neue Töne und neue Facetten, die ich z. B. bei der unlängst von mir begonnnen Lektüre des Romans „Chilenisches Nachtstück“ gleich in dessen Anfangsteil fasziniert erleben durfte.
Ist der Kult, den der Roman ausgelöst hat gerechtfertigt?
Jeglicher Kult schreckt mich eigentlich ab. Meistens steckt nicht viel dahinter. – Zum Glück bin ich auf RB schon vor allem Rummel gestoßen. Meine Einstiegslektüre waren die bei Berenberg erschienenen Essays „Exil im Niemandsland / Fragmente einer Autobiographie“.
Als Tip für (Noch-)Nichtbolañisten: Mit welchem der beiden Romane sollte man anfangen?
Ich weiß zwar, dass – ähnlich wie die Philosophie für Schopenhauer – das literarische Gesamtwerk eines jeden bedeutenden großen Autors eine Stadt „wie das hunderttorige Theben“ mit ebensoviel Zugängen wie Toren sein wird, (jeder mag da individuell sein für ihn bestimmtes Tor finden!) – aber wenn ich schon die Wahl habe, warum einen Seiteneingang suchen, wenn es ein Hauptportal wie „2666“ gibt?
An der gezielten Reihenfolge bei meiner eigenen Lektüre der 5 Teile von „2666“ (I,II,III,V,VI) würde ich übrigens auch noch im Nachhinein festhalten. Diese hat sich für mich bewährt. Andere Leser… mögen individuell lohnendere Abfolgen für sich selber finden.
PS.: Wäre ich zunächst an den kleinen, mich inzwischen überaus ansprechenden Roman „Amuleto“ geraten, hätte ich ganz sicher daraufhin auch anderes von RB gelesen. –
Aber auch der Titel „Chilenisches Nachtstück“ hat mich angezogen, weil ich ihn gleich mit Musikalischem (Notturnos, Nachtstücke und Nocturnes) in Verbindung gebracht habe, also mit Mozart, Field, Chopin, Schumann und Mahlers Siebter Symphonie, mindestens ebensosehr aber mit Literarischem wie E.T.A. Hoffmann („Nachtstücke“), Juan Carlos Onetti und Antonio Tabucchi („Indisches Nachstück“). Und siehe da, auch die Lektüre dieses kleinen großen Romans von RB ist sehr zu empfehlen. (Ob man nun gattungsmäßig Vorkenntnisse hat oder auch nicht.)
9 Responses to “Abschließende Fragen an G.L.”
Jetzt muss ich doch noch eine Frage loswerden: handelt es sich bei den beiden Personen, die mit Amadeo reden, wirklich um Lima und Belano? Die Gespräche mit Amadeo beginnen im Januar 1976, aber Lima und Belano sind den ganzen Januar mit Madero in der Wüste Sonoras und trennen sich am 1. Februar von ihm. Außerdem haben sie zu diesem Zeitpunkt bereits Cesarea gefunden(und schon wieder verloren), warum also noch Amadeo ausquetschen? Möglicherweise sind sie ja irgendwann im Januar mal zu ihm gefahren, aber aus dem Tagebuch Maderos geht nichts weiter hervor.
Beim „Chilenischen Nachtstück“ hatte ich die gleiche Assoziation mit Tabucchis „Notturno indiano“ von 1984, bei Hanser 1990 erschienen und damals auch von Alain Corneau verfilmt. Liegt ja auch nahe bei der Titelähnlichkeit. Die Assoziationen treiben mich noch in den Wahnsinn und wie willkürlich sie zu sein scheinen. Weil ich gerade „Der Rattenpolizist“ aus dem „unerträglichen Gaucho“ gelesen habe, assoziiere ich die bei Tabucchi auf Seite 92 stehenden Zeilen nun mit Bolaño:
„…mein Beruf ist ein anderer, ich suche tote Ratten.“
„Wie bitte?“
„Es war ein Scherz“, sagte ich, „ich durchstöbere alte Archive, ich suche alte Chroniken, Dinge, die von der Zeit verschluckt worden sind. Das ist mein Beruf, ich nenne es: tote Ratten.“
(Antonio Tabucchi: „Indisches Nachtstück“)
Das Motiv der Suche nach einer Person (bei Tabucchi eher sich selbst) und die damit verbundene Reise scheint ein beliebtes literarisches Motiv zu sein. Bolaño benutzt es in „DwD“ (Cesárea), aber auch in „2666“ (Archimboldi).
Tabucchis „Erklärt Pereira“ habe ich damals geliebt. Was ist denn noch empfehlenswert?
Zu Flannery Culp:
Wem berichtet denn Amadeo über die Gespräche? Meiner Ansicht nach berichtet er im Januar 1996 wem auch immer (spätestens uns Leser…n) über ein früher geführtes Gespräch mit Lima und Belano. Merkwürdigerweise also genau zur gleichen Zeit, in der sich Lima, Belano, Madero und Lupe schon (auch partiell als Folge dieses Gespräches) im Norden Mexikos befinden.
@Flannery Culp
Was für ein Lapsus! Ich bitte Sie in meinem Statement „Januar 1996“ durch das natürlich gemeinte „Januar 1976“ zu ersetzen.
@Marvin Kleinemeier
Von Tabucchi kenne ich außerdem nur „Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung“ (war mein Einstieg!), „Lissabonner Requiem. Eine Halluzination“ und „Träume von Träumen“. (Alles durchaus lesenswert. Auch die Bezüge auf Pessoa gefallen mir.))
@ Herrn Landsberger: Ja, Sie haben recht, der Bericht über das Gespräch findet im Januar statt, nicht das Gespräch selbst. Alles sehr verschachtelt 🙂
@Flannery Culp
Sehr verschachtelt ja. Aber doch raffiniert und stimmig? (Darin sehe ich selber einen gewissen Reiz des Buches.)
Der Aufbau des Buches ist sehr raffiniert. Das fällt mir bei den Wilden Detektiven fast noch mehr auf als bei 2666, weil DWD kompakter und kürzer ist. Tatsächlich hatte ich, vor dem Hintergrund meiner o.g. Frage, auch irgendetwas Verrücktes seitens Bolanos erwartet, z.B. dass die unmögliche Gleichzeitigkeit von Wüste und Gespräch im Nachhinein eine Art fortgeschrittene Dekonstruktion des ganzen Aufbaus verursacht 🙂
Gibt es irgendwo einen Text bei RB, in dem Octavio Paz in irgendeiner Weise positiv wegkommt? Eine vorwiegend negative Sicht schimmert meiner Erinnerung nach doch überall mehr oder minder durch. (?) – Für mich kam das durchaus überraschend, da ich spätestens seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt an ihn (am 7. Oktober 1984) Octavio Paz durchaus in einem guten Lichte gesehen habe. Wie in fast all diesen Fällen seit Jahren habe ich mir auch damals diese Preisverleihung samt Preisreden in voller Länge im Fernsehen angesehen. Auch an die Laudatio durch unseren damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker konnte und kann ich mich noch lebhaft erinnern. Unlängst habe ich diese im Essayband Richard von Weizsäckers „Die politische Kraft der Kultur“ (Reinbek bei Hamburg 1987, S.63 – S.78) wiedergefunden und gleich darauf von neuem gelesen.
RBs Invektiven und Abgrenzungsversuchen gegenüber Octavio Paz stehe ich dennoch nicht verständnislos – und alles andere als empört – gegenüber. Zu häufig habe ich gerade unter Schriftstellern (Künstlern überhaupt, auch Philosophen) ein derartiges Sich-Abreagieren zumal an anerkannten Zunft- und Zeitgenossen beobachten können. Wieviel auf den ersten, mitunter auch auf den zweiten Blick als unintelligent erscheinende Wut ist da bisweilen mit im Spiel? Wenn Kleist gegen Goethe kämpft, die Romantiker Schiller lächerlich machen oder Hegel sich vernehmlich gegen die (auch von Goethe) als krank oder zumindest nicht als gesund apostrophierte Romantik ausspricht; mehr noch, wenn der nicht unter die Romantik zu verrechnende Philosoph Schopenhauer gegen den „frechen Unsinnschmierer“ Hegel ausfallend wird oder Friedrich Hebbel Adalbert Stifters „Nachsommer“ verspottet. Auch im 20. Jahrhundert beobachte ich zwar die (durchaus interessanten und aufschlussreichen) Kontrapositionen und oft unversöhnlichen Frontstellungen, wie die z. B. zwischen Brecht und Benn, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Musil, H.H. Jahnn und Thomas Mann, ohne dass ich das etwa so sähe, dass ich mich gefälligst nun auf eine Seite schlagen müsste. Gewiss habe auch ich meine eigenen Vorlieben, mag das eine manchmal etwas mehr als das andere, aber als Leser brauche ich nicht einseitig und absolutistisch unbedingt Partei zu ergreifen, sondern bin stattdessen weit eher froh über eine mir hochwillkommene Fülle und Vielfalt bedeutender Literatur.
Dennoch: Die Künstler selber brauchen diese Abgrenzung, dieses Abarbeiten, manchmal auch die Ungerechtigkeit gegeneinander, um sich in eigenen Werken voneinander abheben zu können, sich vielleicht überhaupt erst selber finden zu können.
(Umgekehrt: Die in diesem unserem Lande – Kohlton! – sehr verbreitete und auch aus ableitbaren und oft nachvollziehbaren geschichtlichen Gründen verfestigte Negativfixierung in der Beurteilung Ernst Jüngers scheint bei RB keine Rolle zu spielen. Dass Ernst Jünger und sein Werk bezüglich seines Wertes und Stellenwertes hier bei RB des öfteren anders beurteilt wird (werden) als zumeist bei uns selbst, könnte auch uns zu denken geben. Die geographisch-geschichtliche Nähe oder Ferne von politischen und kulturellen Diskussionen spielt eben doch recht häufig eine große Rolle bei all unseren Bewertungs- und Geschmackurteilsversuchen.)