Anne Moores Leben
Alles, was wir über Anne Moore erfahren, erfahren wir durch den namenlosen Ich-Erzähler. Was dessen Verbindung zu Anne ist, klärt sich erst recht spät in der Geschichte. Zu Beginn scheint es, als würde hier ein einfacher Bericht gegeben. Und der handelt von einer Frau namens Anne Moore, die in ihrer Jugend in ein Ereignis verwickelt wird, das im Rückblick eine Art Muster für ihr ganzes Leben vorgibt, ihr Leben geradezu präfiguriert. Es ist ein rastloses, haltloses Leben.
Anne wächst in einem kleinen Ort in den USA auf, gemeinsam mit ihrer älteren Schwester. Zum Studieren zieht sie nach San Francisco, dort beginnt sie eine Beziehung zu einem jungen Maler, Paul. Die Sommer verbringen sie in Mexico, wo Anne Rubén begegnet, mit dem sie im zweiten Jahr eine Affäre hat. Sie bleibt in Mexico, doch irgendwann ist auch das wieder vorbei, und sie kehrt nach San Francisco zurück. Der nächste Mann, mit dem sie zusammen ist, will sie auf den Strich schicken. Sie lebt einige Jahre allein, schläft hin und wieder mit Paul und lernt schließlich Tony kennen, den sie sogar heiratet und mit dem sie ein neues Leben in Seattle anfängt. Das geht eine Zeitlang gut, dann verlässt sie ihn und beginnt die nächste Beziehung. Ihr Exmann bringt sich um, ihre Schwester ist längst zur Alkoholikerin geworden, beide Frauen scheitern auf ihre je eigene Weise am Leben.
Irgendwann, man hat als Leser schon den Überblick über diese ständigen Veränderungen verloren, die doch nichts anderes sind als ein Stillstand in Verkleidung, lernt Anne den Ich-Erzähler kennen. Das bedeutet nicht wirklich eine Wende in ihrem Leben, doch für Momente scheint in der Beziehung zum Erzähler eine andere Art von Leben auf, das von einer freundlichen, aufmerksamen Zuwendung geprägt ist. Auch Anne und der Erzähler trennen sich (oder werden getrennt) und treffen sich dann eines Tages unvermittelt wieder. An dieser Stelle steht der schönste Satz der Erzählung: „An diesem Nachmittag schliefen wir miteinander, um vor allem die unbändige Freude zu verbergen, die wir über unser Wiedersehen empfanden.“
Entgegen der landläufigen Meinung, dass Sex die intimste Verbindung zwischen zwei Menschen sein kann, ist es hier genau umgekehrt: eine Intimität entsteht, die so überwältigend ist, dass nur der Sex sie wieder entschärfen kann, der vor diesem Hintergrund plötzlich etwas Sekundäres ist. Doch auch das vergeht, die Wege Annes und des Erzählers trennen sich erneut, diesmal endgültig.
Auch diese Erzählung Bolaños zerreißt einem das Herz, der Leser ist genauso machtlos wie Anne, der es nicht gelingt, ihr Leben so zu leben, wie sie es sich wünscht. Immerhin gibt es in diesem Fall so etwas wie eine Erklärung, nämlich den Vorfall in Annes Jugend: Der Freund ihrer älteren Schwester tötet seine Eltern und fährt nach der Tat stundenlang mit den beiden Mädchen in seinem Wagen durch die Gegend. Die Mädchen wissen nicht, was los ist, aber sie spüren die Bedrohung, die Dunkelheit, die von dieser Fahrt ausgeht. Am Ende hält der Wagen vor dem Elternhaus des jungen Mannes, der keine Anstalten macht auszusteigen, sondern wie gelähmt am Steuer sitzen bleibt, solange, bis schließlich die Ältere die Initiative ergreift: Sie steigt aus, nimmt ihre kleine Schwester mit und macht sich zu Fuß auf den Heimweg. Vielleicht ist es aber auch ganz anders, und der Mord geschieht erst nach dieser quälenden Fahrt – anhand der Informationen in der Geschichte lässt sich der Zeitpunkt der Tat nicht eindeutig bestimmen. Und das macht die ganze Sache nur noch schlimmer.
Angenommen, die Tat wäre schon passiert, dann wären Anne und ihre Schwester die potentiellen Opfer, sie hätten selbst getötet werden können oder hätten einen Schock erlitten, wenn sie das Haus mit den getöteten Eltern betreten hätten. Es leuchtet ein, dass solch ein traumatisches Erlebnis die Ursache für das Scheitern der Schwestern sein könnte. So wie sie damals ziellos durch die Gegend gefahren sind, so ziellos driften sie auch durchs Leben.
Doch was, wenn der Mord erst danach geschehen ist? Dann könnte das Verhalten der Schwestern während dieser Fahrt womöglich sogar der Auslöser für die Tat sein, statt potentieller Opfer wären sie zu Komplizen geworden. Etwas, das sie getan bzw. nicht getan haben, hat Fred so sehr in Bedrängnis gebracht, dass er keinen anderen Weg mehr sah, als seine Eltern zu töten. Es ist dann nicht der Schock, sondern die Schuld, die ihr Leben zerstört hat. Eine Schuld, die schon deshalb nicht zu tilgen ist, weil sie vielleicht gar nicht vorhanden ist. Das ist das eigentlich Verstörende an Anne Moores Leben: Sie geht zugrunde an etwas, dass sich immerfort dem Zugriff entzieht. Wir können uns damit abfinden, dass Dinge, auch schlimme Dinge, geschehen sind; aber dass sie geschehen sind oder nicht, das ist nicht auszuhalten.
Thorsten Krämer, geboren 1971, lebt in Köln. Veröffentlichungen: “Ich heiße Hal Hartley”, Film in Worten, 1998; “Fast schon ein Glück”, Erzählungen, 1998; “Neue Musik aus Japan”, Roman, 1999, “The Democratic Forest”, Gedichte, 2008. Im Dezember erscheint der Erzählungsband “Cabrio”, im nächsten Jahr der Roman “Donnerflug”. www.yeh.de
One Response to “Anne Moores Leben”
S.232 „ihr Nachbar sei ein alter Russe, ein Typ namens Alexej, der sanfteste und wohlerzogenste Mensch, der ihr je begegnet sei“
S.234 „Er erinnerte sich an Anne Moore. Tatsächlich erinnerte er sich an alles, was im zwanzigsten Jahrhundert passiert war, obwohl es, wie er sagte, nicht der Rede wert sei.“
S.233 „Als wäre der Schmerz nicht Rätsel genug oder als wäre der Schmerz nicht die (rätselhafte) Antwort auf alle Rätsel.“
Leben wir in einer Welt, in der wir immer wieder – auch gegen den Anschein – die meisten aller Rätsel (oder am Ende gar alle?) nur abermals rätselhaft beantworten können?