Bemerkungen zum Schluss
Abstieg Auxilios aus den Bergen. Ihre Stimmung ist heiter. Ein Gewitter. Sie denkt an Arturio Belano, an Ulises Lima und an andere junge Poeten. Wenn sie zusammen sind, reden sie alle „ihr Chinesisch“ (S. 151). Auxilio versteht sie nicht mehr. Umgekehrt ist es anders, sie hören ihr zu. Man merkt etwas von einer Verwandlung Auxilios in den Bergen. Eines Tages erzählen sie, Arturio Belano sei weg aus Mexico. Sie freuen sich, Auxilio wird wütend: „Ich kann nichts vergessen. Das ist mein Problem, sagen sie.“ (S. 152)
Und wieder erzählt Auxilio von ihrem Ausharren auf der Frauentoilette der Universität. Sie hatte geträumt von „herrlichen, sicheren Flugzeugen, die durch den klaren, kalten Himmel kreuz und quer über Lateinamerika hinweg flogen.“ (S. 153) Also kein Absturz in den Anden. (S. 145). Als sie in Kapitel 12 zu Besuch bei Carlos Coffeen ist, fällt ihr endlich ein, was ihr „vorher die ganze Zeit nicht eingefallen war“ (S. 133) und offenbar sehr wichtig ist: „Halt, sagte ich. Ich erinnere mich. (…) Coffeen starrte mich an. Und ich erblickte einen Flughafen, ohne Menschen, ohne Flugzeuge: Nur Hangare und Landebahnen, denn es war ein Flughafen, von dem einzig und allein Visionen und Träume starteten. Es war der Flughafen der Besoffenen und der Junkies. Und dann löste er sich wieder in Luft auf, und an seiner Stelle erschienen wieder die Augen von Carlos Coffeen“ (S. 133). Das mit den Flugzeugen wird wohl eine tiefere Bedeutung haben.
Sie erzählt weiter – in Kapitel 14 – von ihrem Ausharren auf dem Klo. Immer wieder liest sie in einem Buch von Pedro Garfias. Und sie muss wieder an das Gemälde von Dr. Atls „Landschaft im gleißenden Licht“ (S. 153) denken. Was hat es mit diesem Bild auf sich?
Sie träumte auf dem Klo, erinnert sie sich von Juana de Ibarbourou, von deren Büchern. Welche Bedeutung hat das wohl? Dann erwachte sie und „Mir fiel ein: Ich bin die Erinnerung.“ (S. 154) Offenbar kann sie in der Tat nichts vergessen (S. 152), weil sie die Erinnerung ist (S. 154). Sie ist die Erinnerung. Vielleicht kann man auch sagen, sie ist das Gedächntis. Und ich glaube, sie ist ein ganz besonders Gedächtnis und dass das mit ihrem Verständnis von Geschichte zu tun hat. (Ich verweise zur näheren Erläuterung auf andere Beiträge auf diesen Seiten)
Sie denkt weiter an ihr Ausharren auf dem Klo. Sie fragt sich, wieviel Verse sie auswendig kennt. (S. 154) Sie schreibt sie auf Klopapier auf und spült sie hinunter und denkt: „Welch poetischer Akt, mein Geschriebens zu zerstören.“ (S. 155) Mir scheintt bemerkenswert, dass dieses geschriebene, von dem hier die Rede ist, Lyrik ist, und nicht Prosa. Ich glaube mich zu erinnern, dass Bolano an anderer Stelle schreibt, dass ein vollkommenes Werk nur vollkommen sei, wenn man es zerstöre. Wo steht das? Oder irre ich? In „2666“ geht es auf den Seiten 954 f. um das „Meisterwerk“, was erst ein solches sei, wenn es verborgen bliebe.
Und dann kommt die Sache mit dem Tal, den Kindern etc. darüber ist hier schon geschrieben worden. Ich möchte nur noch mal darauf hinweisen, dass Auxilio in diesem Zusammenhang von „dieser Stunde, in der alles in der Welt zu Ende geht“ (S. 162) redet. Natürlich habe ich da wieder an den letzten Satz von Kleists „Marionettentheater“ gedacht: „Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ Auch über diese Zusammenhänge wurde hier schon geschrieben.
In „dieser Stunde, in der alles in der Welt zu Ende geht“ (S. 162) singen die Kinder, von denen Auxilio auf den letzten beiden Seiten von „Amuleto“ redet, ein Lied. Das „Banner“ der Kinder sind Vögel. Die Kinder oder „jungen Menschen“ singen angesichts des „sichere(n) Tod(es)“ (S. 162) ein Lied. Das ist Lyrik. Und: „Es sang vor allem von der Tapferkeit, den Spiegeln, der Sehnsucht, der Freude.“ (S. 163) Über die Rolle der Tapferkeit und der Spiegel bei Bolano haben wir hier auch schon gesprochen. Vielleicht ein bisschen wenig über die Rolle der Sehnsucht und der Freude.
Und zum Schluss heißt es: „Dieses Lied, es ist das Zeichen unserer Erinnerung, unser Amulett.“ Darüber kann man auch nachdenken, was duieser Satz mit dem Titel des Buches „Amuleto“ zu tun hat. Ist „Amuleto“ ein Zeichen der Erinnerung und insofern ein Lied, weil es Poesie ist?
One Response to “Bemerkungen zum Schluss”
„Zeichen der Erinnerung“ ist im letzten Satz ein Zusatz (bestenfalls eine umschreibende Paraphrase) des deutschen Übersetzers.
Statt „Freude“ steht im Spanischen „placer“, das wohl mit „Lust“ oder „Vergnügen“ übersetzbar wäre. Der Übersetzer von Berenberg übersetzt „placer“ wie das altgriechische „hedoné“ – ,das mit Lust oder Freude übersetzt werden kann, aber in unterschwelliger bis bewusster Verbindung mit lustfeindlichen Traditionen meistens mit dem Wort „Lust“ ins Deutsche übersetzt worden ist, – hier mit dem Wort „Freude“. Vom spanischen Original aus in Verbindung mit der gewählten deutschen Übersetzung bekommt das Wort „Freude“ hier einen deutlich hedonistischen bzw. epikur(ä)ischen Unterton.
„Sehnsucht“ nun (vgl. den vorletzten Satz von „Amuleto“) hält etwas Abwesendes anwesend. In der Sehnsucht wird nicht nur etwas vermisst und als abwesend beklagt, in der Sehnsucht ist jeweils das schmerzhaft als abwesend Empfundene als bewusst Abwesendes ganz präsent.
Nur: im spanischen Original steht nicht das im Spanischen gebräuchliche Wort für Sehnsucht, sondern das Wort „deseo“, das meistens mit den Wörtern „Wunsch“, „Verlangen“ oder „Drang“ ins Deutsche übersetzt wird.
„deseo“ und „placer“ sind (hoch geschätzte) Ausdrucksqualitäten des Liedes, auf welchem am Schluss der Akzent liegt; „deseo“ und „placer“ werden vor aller Reife, zu der es ja in der fraglichen lateinamerikanischen Generation nicht kommt oder nie mehr gekommen ist, schon den Kindern zugeschrieben; „deseo“ und „placer“ wären aber auch noch typische Kennzeichen eines zur Reife gelangten, nicht vor Zeiten zu Grunde gerichteten Lebens. Daran wird bis zuletzt hoffnungsvoll festgehalten.