RB und die Fallstricke von Literatur und Geschichte

Die sieben Überlebenden mit dem abgeschlagenen Kopf ihres Anführers, in einem Palast am Meer, wo zwei Tore offen sind und das Dritte verschlossen (sie wissen, dass es verschlossen bleiben muss), leben achtzig Jahre lang ohne einen Gedanken an Traurigkeit. Schließlich öffnet einer von ihnen das Tor, das nach Cornwall hinausgeht. Und als er schaute, begriffen sie ganz und gar die große Zahl der Übel, die sie erfahren hatten, als wäre all dies erst jetzt über sie hineingebrochen. Und mehr als alles andere spürten sie das Fehlen ihres Herrn.

Der numinose Hintergrund der Geschichte bildet sich aus den Ereignissen die für unseren Verstand kausal unerklärlich sind. Dieser Hintergrund hat es an sich, sich von Zeit zu Zeit aus dem Psychischen in die greifbare Realität zu verlagern. Warum wollte Platon die Dichter seiner Zeit aus dem Staat aussperren? Wohl weil Religion ohne Philosophie blind und Philosophie ohne Religion taub ist und so ein verderblicher Einfluss von den Dichtern auf das Volk ausgeht, solange sie nicht jenen Punkt weder treffen noch anzielen wo Religion und Philosophie zusammen kommen und von dem einzig seelenvoller Einfluss auf das Volk ausgehen kann.
Roberto Bolaños Roman La literatura nazi en América aus dem Jahre 1996 erschien in deutscher Übersetzung 1999. Eine englische Übersetzung folgte 2008.
Die Autoren die Bolaño in seinem Roman in Form von hyperfiktionalen biografischen Skizzen uns vor Augen führt scheinen allesamt genauso verloren in ihrem Leben wie in ihrer Kunst. Kunst wird in ihrer Macht sich in Form von Ideologien und ästhetischen Manifesten in die Hirne der Menschen hineinzufressen vorgeführt. In seinem Spätwerk 2666 schenkt uns Bolaño das Portrait von Benno von Archimboldi, einem Schriftsteller und ehemaligen Nazi, der aber im gewissen Sinne die genaue Gegenfigur zu den hier vorgeführten „Nazi-Dichtern“ bildet. Einen, trotz aller Wirrnisse um ihn, bei sich bleibenden und deswegen authentischen Menschen, der aus dem Künstlermythos ausbricht in dem Maße, wie er vor unseren Augen durch das Leben geformt wird. Einem Menschen, bei dem Erfahrung und Kunst sich gegenseitig in Frage stellen und so einander wirklich bereichern. Unser tradiertes Kunstverständnis wird beiläufig als Schmiede von Illusionen und Verirrungen bloßgestellt und der Blick auf einen neuen Typus von Künstler wird frei: Einen Menschen für den sich das Tor zu Platons Staat bestimmt geöffnet hätte, weil er zunächst durch die Suche nach einer Wahrheit in der Kunst vom Leben geläutert wurde. Bolaño selbst glaubte zutiefst an die Fähigkeit der Literatur uns zu transformieren und zu retten. Folgerichtig hat er sich auch in seinem Leben stark mit dem literarischen Establishment angelegt, öffentlich erklärt der magische Realismus „stinke“ und etablierte Größen wie Márquez, Paz und Isabel Allende schonungslos angegriffen. Letzterer warf er etwa vor sich schuldig gemacht zu haben Kitsch zu produzieren. (Eine Zusammenfassung von Leben und Werk Bolaños ist zu finden auf The Melting Pot.)
Wenn man so will bilden die Dichter in La literatura nazi en América – wie übrigends auf andere Art auch die zwar mehr oder weniger harmlosen aber auch ziellosen Dichter der literarischen Gruppe der „viszeralen Realisten“ in Bolaños Roman Los Detectives Salvajes – die Vorstudien ex negativo für den wahren Dichter, der als geheimnisvolle zentrale Figur hinter dem Geschehen von 2666 steht.
In Bezug auf die narrative Struktur haben wir es bei Roberto Bolaño zumeist mit einer diskontinuierlichen Kontinuität zu tun, bei der Sequenzen sich nicht so sehr um ein zusammenlaufendes Ganzes bündeln, sondern sich vielmehr, wie bei Buñuel nach 1968, ständig in neue Tangenten aufteilen: Es verschmilzt der traditionelle spanische pikareske Roman mit der Form des Roadmovie. Die Geschichte sucht sich selbst und wir als Leser sind dieser Suche auf den Fersen. In dieser allgemeinen Haltlosigkeit gilt es aber immer wieder erstaunliche Durchblicke zu gewahren. So etwa wenn der Schriftsteller-Doppelgänger Arturo in Los Detectives Salvajes einer Frau mit dem Namen Maria Teresa Solsona Ribot, durch seine beiläufige Art und seine einfachen genauen Gesten, in der Lage ist, so etwas wie echte bedingungslose Liebe spüren zu lassen. Oder wenn Norman Bolzman, der, ebenfalls in Los Detectives Salvajes, an einem Essay über Nietzsche und den Nationalsozialismus arbeitet, dort zu Daniel Grossman, mit dem er über eine gemeinsame Zeit in Tel Aviv verbunden ist, folgendes sagt:
… Es geht überhaupt nicht um die Realviszeralisten, du verstehst überhaupt nichts, du Idiot. Und darauf ich: Und worum geht es dann, bitte schön? Da wandte Norman zu meiner Erleichterung den Blick endlich von mir und konzentrierte sich wenigstens für ein paar Minuten auf die Strasse, ehe es sagte: Ums Leben, um das, was wir, ohne uns darüber klarzuwerden, verloren haben und was wir davon wieder zurückgewinnen können. Und was können wir wiedergewinnen? fragte ich. Was wir verlieren, können wir unversehrt zurückgewinnen, sagte er.“ Los Detectives Salvajes S.577
Es ist auch dieser Norman Bolzman, der, nachdem ihm eine gemeinsame Freundin von ihm und Daniel den Tractatus logico-philosophicus von Wittgenstein weggenommen hat, von dieser statt dessen einen Roman bekommt, den sie gerade ließt: Die grenzenlose Rose von einem Autor namens J.M.G.Arcimboldi. (Dies das Augen öffnende Erlebnis des Gefühlswissens: Kunst wirklich ganz in ihrem wahren Sein zu erfahren – nämlich zu erkennen wieso jedes Detail im Kunstwerk nur genau so und nicht im geringsten anders sein kann.)
Vom Gefühlswissen und der Welt der Intuition

So bald ein Mensch, Künstler oder nicht, seine imaginäre Kraft lernt einzusetzen um herauszufinden wer sie oder er wirklich ist, wird dieser zum Helden einer potentiell grenzenlosen Geschichte und nicht zum Opfer eines mehr oder weniger selbsterzeugten psychopathischen Kultes. In La literatura nazi en América zeigt Roberto Bolaño – auf eine Weise die es durchaus mit dem überbordenden geistreichen Humor von Cervantes aufnehmen kann – ein ganzes Panoptikum an Möglichkeiten Opfer von Umständen und Ideologien zu werden und auch wieso die Literatur schon immer Teil und Grundlage dieser Verwirrungen war.

Bolaño zeigt auch in diesem Roman, wie immer nüchtern aber dabei mit einem liebevollen Einfühlungsvermögen ausgestattet, wie Subjektivität dem Bewusstsein entgegengesetzt seien kann, da sie sich per Definition willkürlich auf eine bevorzugte Sichtweise beschränkt. Subjektivität sperrt die Menschen in unsichtbare Gefängnisse ein. Er zeigt auch, wie die Weltsicht eines Menschen zu für ihn charakteristischen Verzerrungen neigt, die von jeweiligen instinktiven und emotionalen Eigenschaften diktiert werden. (Kommt der von Bolaño erfundene Begriff viszerale Realisten von „die Realität verzerrend“?) So ist es für den Leser ein lehrreiches und herausforderndes Spiel die wichtigsten realitätsverzerrenden Tendenzen von fiktionalen Dichtern (die gerade je seltsamer sie daher kommen, desto realer nur wirken) daran festzumachen, inwiefern bestimmte emotionale Eigenschaften von diesen nicht mit der von ihnen erfahrenden Realität übereinstimmen. Wenn die Dichter nicht mehr ästhetisieren, verklären oder ideologisieren, kann von allen in der Gesellschaft erkannt werden, wie das Böse wirklich in der Gesellschaft wirkt und versucht Macht über uns zu gewinnen. Eine solche Gesellschaft entwickelt sich dann weg von einer Expertokratie oder Pathokratie hin zu einer Gemeinschaft, in der die Macht im positiven Sinne von einem aufgeklärten und wissenden Volk ausgehen kann. In einer solchen Gemeinschaft würden die Medien nicht nur zeigen was uns angeblich interessiert und damit eine Realität erzeugen die angeblich objektiv und zuverlässig ist, sondern sie würden darüber aufklären, wieso wir immer nur einen Teil der Geschichte sehen. Kurz: Die Medien wären nicht darauf länger ausgerichtet uns im Status Quo zu halten und zu unterhalten, sondern uns im Sinne Platons zum Besseren zu erziehen, indem sie uns auffordern alle gängigen Geschichtsbilder in Frage zu stellen, selbst nachzuforschen und so unsere Intuition zu schulen.
Vom Nährboden für die Naziideologie

Wir sind hier gemeinsam mit Roberto Bolaño fern jeder moralisierenden Interpretation von psychopathologischen Phänomenen. Eine bestimmte Weltsicht kann sich auf Grund bestimmter Lebensumstände herausgebildet haben und es ist nicht an uns einen Menschen wegen seiner Weltsicht zu verurteilen, sondern es kann einzig darum gehen die tieferen Ursachen für eine bestimmte Weltsicht zu sehen. Verurteilung macht immer blind für wahre Ursachen. Jedes Wesen ist einmalig wie die Wahrheit, die sich auch jederzeit allen historischen Einordnungen entzieht. Insofern ist die Kategorisierung Nazi-Literatur natürlich ein Todschlag-Argument; ein Wahn, mit dem versucht wird einen anderen Wahn zu bändigen. Offensichtlich ist sich unser Autor dessen nur all zu bewusst. Die Literatur, aber auch die darstellenden Künste, sind seit jeher in ein Paradox verstrickt, durch das eine objektivierte Inszenierung die nicht zu objektivierenden Charaktere tötet, wobei die Handlung sich bloß in der Inszenierung verlängert. Handlung und Inszenierung sind etwa bei dem Filmemacher Jean-Pierre Melville, und auch dem Schriftsteller Herman Melville, auf gespenstische Weise ein und dasselbe. Erzählweise und Darstellungsweise kooperieren vollständig beim desillusionieren der Charaktere miteinander. Eine Entwicklung, die direkt zum Umgang mit dem vorgeblich Absurden (Beckett, Bernhard) oder Unbestimmbaren (Pynchon, Gaddis, DeLillo) führte, wobei bei Letzteren die Leser schon aktiv aufgefordert wurden einen eigenen Rechercheaufwand zu betreiben, da große Mengen historischer Ereignisse sich hier so mit fiktiven Begebenheiten vermischen, dass dem Leser werkimmanent die Unterscheidung zwischen Geschichte und Fiktion unmöglich wird.
Bei Roberto Bolaño verhält es sich anders. Bei ihm treten wir beständig in neue Welten ein. In dem Maße, wie sich die echte Wirklichkeit sowieso immer der künstlerischen Darstellung entzieht passt sich sein Stil dieser ständigen Verwandlung des Seins an, indem in seiner Literatur jeder Moment erst im entstehen, die Schöpfung noch nicht abgeschlossen ist. Eine Beurteilung einer Situation fällt so weg, weil im nächsten Moment sich sowieso eine andere Perspektive eröffnen kann, die einen ganz neuen Blick auf das Gegebene eröffnet. Ein Stil ist im besten Fall ein Medium, welches Gegebenheiten intuitiv so auswählt, dass das Ergebnis eine Objektivierung ist.

Der Leser befindet sich im besten Fall in einer Welt der Intuition, die ihn nicht von der Umwelt isoliert, sich eben nicht wie Edgar Alan Poe in einem idealen Zimmer isolierend.
Der entscheidende Dreh ist nun bei Bolaño, wie er die Konstitution eines möglichen faschistischen Denkens in der Geschichte der Kultur des amerikanischen Kontinentes nachspürt. So tritt etwa das Verlieren in Äußerlichkeiten in seinem Text als konstituierend für die Bildung einer (scheinbaren) Selbstwahrnehmung zutage, wie es symptomatisch für Edgar Allan Poe´s Essay The Philosophy of Furniture (1840) ist. Bei Bolaño verliert sich eine fiktive Dichterin, angetan von diesem Essay, im Dekorativen. Sie verwirklicht die dort ausgeführten Vorstellungen und macht deren Fiktion gleichzeitig zu ihrer Wirklichkeit. Hier zielt Bolaño ins Herz des Nazismus, denn Äußerlichkeiten ersetzen bei diesem öfter als nicht Innerlichkeit. Denn dies ist ein Drang des Nazismus: Jede suspekte Innerlichkeit durch klar geschliffene Äußerlichkeiten zu ersetzen. Es sind bei Poe, oder den Nazis, die Widersprüche, die aus jedem überzogenen Idealismus heraus wuchern und schließlich die authentische lebendige Verbindung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zerstören können.
So wie die Romantik in Frankreich etwas ganz anderes war als in Deutschland, so haben alle geistigen Strömungen oder Verblendungen in jedem Lande ihre ganz eigenen Ausprägungen. In den einzelnen amerikanischen Ländern wuchert so auch die Nazi-Ideologie im Roman auf ganz unterschiedliche Weise daher. Die romantische Schule war eine der Quellen der Nazi-Ideologie in Deutschland und geht zurück auf eine Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, die wiederum aus einem bestimmten verklärten Volksverhältnis zum Christentum entsprang. Ein Volk, so Heine, welches sich besonders an den Marterschmerzen Christi ein gespenstisch-grauenhaftes Vergnügen besorgte. Die deutsche Kultur war seit dem imprägniert von einer Kampfkraft süßer Sentimentalität, deren schauerlicher Reiz eben in der Wollust des Scherzes besteht. Die Verklärung dieser Blut/Schmerz – Sentimentalität bildete in Deutschland den Nährboden für die Naziideologie, eine Frucht der Verdrängung der natürlichen Lebensfreude. Wenn zudem kaltes Intellektualisieren über die Lebendigkeit des Gefühlswissens siegt entstehen Keime mörderischer Ideologien.
Vom Spiel der Fiktion

Genauso wenig wie wir im Schlüsselfilm des amerikanischen Kinos Citizen Kane (1941) erfahren wie Kane sich eigentlich wirklich selbst sah, so wird in La literatura nazi en América jede Innensicht der dargestellten Personen verweigert, aber gleichzeitig beschrieben wie diese Personen lebten, dichteten und ihre Gedanken ausstrahlten und somit andere Personen beeinflussten, von denen wir nie direkt erfahren. Aber wie im Film Citizen Kane ist diese indirekte Beeinflussung von Kunst und Journalismus auf Politik und Leben das Zentrum des Romans. Ähnlich wie in Citizen Kane bekommen wir in diesem die vielschichtige Grundlage des menschlichen Lebens vorgeführt. Genau genommen ist La literatura nazi en América eine Art Weiterführung von Citizen Kane, diesem Film der aus einem Portrait besteht, welches sich aus Puzzle-Stücken von Aussagen zusammenfügt, die gesammelt werden von Kanes Biografieschreibern. Und wir sind als Zuschauer/Leser völlig einbezogen in dieses Spiel der Fiktion, denn es ist an uns jeden Moment zu entscheiden, in wie fern das gerade Wiedergegebene tatsächlich die Realität des Porträtierten berührt. In Bolaños Roman Los detectivos salvajes haben wir es dagegen nur mit einem Netzwerk an Innenansichten zu tun, die sich organisch um das leere Zentrum einer fehlenden einheitlichen Geschichte organisieren. In all diesen Fällen bereitet sich ein neuer Blick auf das Dasein vor, der die menschliche Existenz als Realität beschreibt die beständig im Kraftfeld von Subjektivität, Individualität, Gemeinschaft und Autonomie funktioniert und wie ein Quantenteilchen nie eindeutig festzulegen ist. Aus jeder Sicht auf eine Person fließen uns ganz unterschiedliche Stimmungen entgegen, so das sich das Dargestellte transzendiert im Blick, den wir entscheiden auf dieses zu werfen. Statt in vordergründigen Aktionen und Dialogen zerfließt das Geschehen innerhalb unserer jeweiligen Vorstellungen von den portraitieren Personen.
Wann ist genau der Punkt erreicht im Leben eines Menschen, an dem die innere biographische Komponente, oder eine von außen vorgegebene, völlig Besitz ergreift von Denken, Handeln und Sehen? Und woraus besteht diese Komponente? David Foster Wallace war dabei in der Literatur ernst damit zu machen wirklich aufzudecken, wie Menschen bislang beständig in der Gesellschaft dadurch manipuliert werden, indem ihnen für die Informationen die sie von einer „Elite“ bekommen, bestimmte Fakt-Strukturen vorgegeben werden. Siehe dazu etwa das 22 Kapitel von The Pale King, wo alles Geschehen sich aus einer Erinnerung an dieses Geschehen versucht herauszuschälen, aber die sich erinnernde Person sich ihrer Unzulänglichkeit authentisch und nicht-manipuliert zu erinnern dadurch nur immer bewusster wird. Die Flucht in eine von außen vorgegebene Fakt-Struktur ist der einzige Ausweg und gleichzeitig der Fluch. Das authentische autobiographische Selbst kann sich erst ausbilden bei einer Person, die innerlich ihre eigene Fakt-Struktur ausgearbeitet hat und so nicht durch Massenhypnose mehr verführbar ist.
Die empfindsame Schreibweise setzte eine bestimmte Vor-Interpretation der Wirklichkeit voraus. Die sentimentale Subjektivität der Romantiker (Sterne, Jean Paul etc.) hatte eine Doppelfunktion, denn sie schaffte eine bestimmte Kultur gleich gestimmter Seelen und zudem kommunizierte sie mit dieser Kultur. Zur Zeit von Bach gab es praktisch keine eigenständige Literatur in Deutschland, aber es gab den Pietismus, und zu diesem sprach die Musik von Bach und gleichzeitig brachte diese Musik diesen hervor.
Vom magischen Realismus und der realistischen Magie
Die Erzählweise, der sich Bolaño in seinem Roman bedient – und die in der Tradition von ähnlichen Spiegelwelten steht, wie sie etwa von William Beckford, (der 1780 einen Roman aus fiktiven Malerbiografien veröffentlichte), Marcel Schwob (Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe, oder im Orginal: Vies imaginaires, 1896) und Jorge Luis Borges (Historia universal de la infamia, 1935) stammen – ist aber auch Reflexion des polemischen Tons, mit dem Heinrich Heine in Die romantische Schule den französischen Literaten versucht einen Einblick in die eigentlichen Ursprünge und Wirkungsweisen der deutschen Literatur zu geben. Heine machte dabei klar, wie die deutsche Sprache sich herausbildet aus einem Kampf unzähliger Literaten und Denker und Wissenschaftler gegen alle möglichen Ungetüme, seien sie klerikaler, jesuitischer, heidnischer, aristokratischer oder sonstiger Art (feudalistisch, mittelalterlich…).
Bolaño geht dabei tief zurück bis zu den Ursprüngen der amerikanischen Literatur, etwa zu der mexikanischen Dichterin Juana Inés de la Cruz, einer Vorläuferin des Feminismus. Statt uns nun aber wie Heine eine authentische Literaturgeschichte zu geben, liefert uns Bolaño scheinbar eine monströs verzerrte fiktionale, die allerdings durchgängig reale Versatzstücke so aufgreift bis die Grenzen zwischen Fiktion und vorgeblich festgelegter Realität verschwimmen.
Der magische Realismus, der in der lateinamerikanischen Literatur offiziell mit Borges und seinem oben erwähnten Werk begann, hat ein in diesem Zusammenhang entscheidendes Vorspiel in Europa, wo der deutsche Kunstkritiker Franz Roh den Begriff zuerst 1925 in seinem Buch Nach-Expressionismus – Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei verwendete. Roh beschrieb eine Weiterentwicklung des Surrealismus, die das kollektive Unterbewusste betraf. Der italienische Dichter Massimo Bontempelli, der als erster magisch-realistische Dichter angesehen werden kann, inspirierte mit seinen Werken den Faschismus in Italien, indem er beschwor wie Literatur ein Mittel sei ein kollektives Bewusstsein zu kreieren, indem sie der Realität neue mythische und magische Perspektiven eröffnet.
Kunst, Geschichten, Erzählweisen erschaffen erst Realität. Was ist das für eine Realität, die die Erzählweise Bolaños konstruiert? Es ist eine ohne Interpretations- oder Informationsmonopol. Eine Realität die dem Storyteller-Bewusstsein entspricht, wie es in The Ascent of Humanity von Charles Eisenstein so treffend beschrieben wird. Oder dem „Autobiografischen Selbst“ welches sich nach António Rosa Damásio aus Gedächtnis, intelligenter Schlussfolgerung und Sprache erzeugt und auf permanenten, aber dispositionalen Aufzeichnungen von Kernselbst-Erfahrungen beruht. Diese Aufzeichnungen können als neuronale Muster aktiviert und in explizite Vorstellungen verwandelt werden, oder auch durch weitere Erfahrungen partiell abgeändert werden. Das Gehirn clustert, arrangiert und formt Erinnerungen und schafft so „Identität“, also ein Sorryteller- Konzept. Dabei blendet es aus oder hebt hervor. Ereignisse werden nach belieben gewichtet, verknüpft, ausgeschmückt, gedeutet oder instrumentalisiert.
Abb. aus: Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. S. 371 Aus dem Englischen von Hainer Kober, Econ Ullstein List Verlag, München 2000 (engl. Originalausgabe 1999: The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consiousness)
Bolaño imitiert nicht verschiedene Schreibweisen, sondern er schmiegt sich an die unterschiedlichsten Charaktere an. So überwindet er subjektiv romantischen Ich-Überschwang oder den objektivierbaren klassischen Kunstraum, oder das postmoderne Kombinationsspiel – und führt eine Art ein, die das Leben als bruchlose Verbindungen von Literarisierungen reflektiert. Ein solches Leben ist weder postromantisch auf ein Ich bezogen noch analytisch charakterisierend, sondern äußerst spontan, gegenüber allem jederzeit offen, wandelbar, multikulturell, extrem anpassungsfähig, alles jederzeit in Frage stellend, nicht magisch-realistisch sondern realistisch-magisch. Was ist mit realistisch-magisch gemeint? Nun, in Los Detectives Salvajes etwa sind die einzelnen Zeugenberichte, aus denen der Roman hauptsächlich besteht, so genau erinnert, dass sie eben Realität erzeugen in dem Maße, in dem sie ihre jeweilige Genauigkeit zum Erstaunen der Leser ausbreiten. Denn die Genauigkeit der Erinnerung schafft immer auch erst, zumeist unbemerkt, die jeweilige Realität der Gegenwart, aus der heraus erinnert wird. Ein solches Erinnern schafft durch sein Konkretisieren und Integrieren eine Durchsichtigkeit die das Zeithafte überwindet.
Bolaño macht so deutlich, dass Geschichten nur Geschichten sind. Er führt das Zusammenbrechen unserer bisherigen Geschichten vor, damit endlich eine ganz andere Realität durchbrechen kann. Kurz: Das Erzählen von Geschichten wird bewusst, wir verwechseln es nicht länger mit einer festgeschriebenen Realität. Wir werden uns nie mehr dafür hergeben in begrenzenden Geschichten zu leben, in Lügen. An einer Stelle bezieht sich Bolaño ganz in diesem Sinne auch direkt auf Hitlers Europa von Arnold Joseph Toynbee (La literatura nazi en América S.124) und zitiert den Prolog „Die Unbegreiflichkeit der Geschichte“ mit dem Satz: „Die Sicht des Historikers ist immer und überall bedingt durch seine Stellung in Zeit und Raum; und wie Zeit und Raum sich ständig verändern, so kann auch Geschichte, im subjektiven Sinn des Begriffs, niemals ein fortlaufender Bericht sein, der ein für alle Mal alles auf eine bestimmte Art und Weise erzählt, die für Leser aller Epochen oder gar in allen Teilen der Erde gleichermaßen akzeptabel wäre.“ Als einflussreicher Meinungsgestalter wurde Toynbee im Jahre 1936 zu einem privaten Gespräch mit Adolf Hitler in die Reichskanzlei eingeladen. Hitler betonte damals, er beschränke seine expansionistischen Ziele auf eine größere deutsche Nation, und äußerte seinen Wunsch einer guten deutsch – britischen Verständigung und Zusammenarbeit. Toynbee war von Hitlers Aufrichtigkeit überzeugt und unterstützte Hitlers Botschaft in einem vertraulichen Memorandum für die britische Premierminister und Außenminister. Während des Zweiten Weltkriegs, arbeitete er wieder für das Auswärtige Amt und besuchte die Nachkriegs-Friedensgespräche. (Quelle dieser historischen Zusammenhänge: Wikipedia) Um einen tieferen Einblick in die hier zugrunde liegenden Wirkungsweisen der Nazis zu bekommen führt wohl nicht wirklich ein Weg an den Erkenntnissen vorbei, denen die Dokumentarfilme Nazis: The Occult Conspiracy und The CIA and the Nazis nachgehen.
Außerdem kann natürlich Material wie Phillip Lindsay Essay Nazi-Deutschland: Eine Astro-Historische Analyse jede Menge Möglichkeiten eröffnen, sich dem Thema umfassender zu stellen.
Vom Durchschauen und Gegenwärtigen der Geschichten

Obwohl niemand, auch beim schlechtesten Willen, Bolaño selbst als Nazi-Autoren bezeichnen könnte, ist es gerade der von ihm erfundene Schriftsteller Harry Sibelius, der sich, wie oben gesehen in seinem 1.333 Seiten Roman Hiobs wahrer Sohn auf Toynbee bezieht, der nicht nur einen schwarzen Spiegel von dessen Hitlers Europa verfertigt (wie es Bolaño nennt), sondern auch auf vielschichtige Weise einen schwarzen (oder doch sehenden?) Spiegel auf Bolaño selbst und dessen Verfahrensweisen als Autor richtet (sowohl Bolaño wie Harry Sibelius sind nachdrücklich von Spinrad, Dick und Borges beeinflusst. Norman Spinrad hat in The iron dream aufgezeigt welche Parallelen existieren zwischen dem Faschismus und Rassismus des Dritten Reiches und den zweifelhaften Produkten mancher Autoren…) So heißt es (in der Übersetzung von Heinrich v. Berenberg):
Der britische Historiker schreibt letzten Endes, damit Verbrechen und Schande nicht der Vergessenheit anheimfallen. Der Romancier aus Virginia hingegen scheint für Momente zu glauben, dass irgendwo in Zeit und Raum das Verbrechen den Sieg davongetragen hat, weshalb er sich daran macht, es zu untersuchen. (…) Seine Geschichten, es sind tausende von Geschichten, die sich ohne Ursache und Wirkung in „Hiobs wahrer Sohn“ kreuzen, diese Geschichten gehorchen keinem Diktat und wollen auch keine einheitliche Vision vermitteln (so wie es absurderweise ein New Yorker Kritiker behauptete, als er den Roman mit „Krieg und Frieden“ verglich.) Sibelius´Geschichten geschehen, weil sie geschehen, nicht mehr und nicht weniger, sie sind Früchte eines souveränen Zufalls, befreit zu eigener Machtentfaltung, jenseits von menschlicher Zeit und menschlichen Raum, in der Morgendämmerung, sagen wir, eines neuen Zeitalters, wo die raumzeitliche Wahrnehmung eine Metamorphose zu durchlaufen, ja sich aufzuheben in Begriff ist.
Inwiefern kannte sich Bolaño mit dem Werk von C. Wright Mills oder dem von Antony C. Sutton aus, wären angesichts seiner Beschreibung des Werkes von Harry Sibelius berechtigte Fragen, heißt es doch in seinem Roman: „Sibelius spricht über die politische, ökonomische und militärische Ordnung im neuen Amerika und bleibt darin völlig verständlich.“

Nur wenn wir all die falschen Geschichten, in die unser Leben eingesponnen ist, durchschauen, kommen wir in Kontakt mit einer umfassenden übersinnlichen Realität. Bolaño zeigt uns wie Geschichten uns bisher genau davon abgehalten haben diese umfassendere Realität zu erkennen. Die einzige Realität, so zeigt Bolaño beständig, ist die Vorstellungswelt in der jemand als Mensch sich selbst definiert, über ein Storyteller-Bewusstsein. Diesem Bewusstsein entspricht nicht mehr ein stromartiger Zeit- und Geschehensablauf, sondern – wie es schon J.R. von Salis formulierte – eine Sichtbarmachung sich ineinander verknüpfender Geschehnisse, deren Bezogenheit aufeinander geschichtsbildent wirkt. Eine solche Sichtbarmachung entspricht dann genau dem, was Jean Gebser eine universelle Geschichtsschreibung integraler Art nannte.
A. H. Maslow schreibt in seinem Buch Toward a Psychology of Being (1956) Kreativität kann ein Verhältnis sein, welches man gegenüber der „Realität“ einnimmt. Kreativität in solchen sich beständig neu erschaffenden Wesen ermöglicht diesen das Frische, das Raue, das Ideographische, das Abstrakte, das Kategoresierte und Klassifizierte als solches zu erkennen und somit leben sie vielmehr in und mit der Natur als nur in der verbalisierten Welt der Konzepte, Erwartungen, Glaubensvorstellungen und der Stereotypen, die die meisten Menschen mit der Realität verwechseln. Letztendlich ist es ein solches Verwechseln, das uns La literatura nazi en América bewusst macht. So wie die Romantik vom Mittelalter befreite, so befreit die Postmoderne, trotz all ihrer Fallstricke, von der Moderne. Doch sowohl zur Modern wie zur Postmoderne gehört die mit diesen Zeiten verbundene Geißel unerkannter faschistischer Ausformungen und genau diese greift Bolaño in seinem Roman an und stellt sie bloß.

3 Responses to “RB und die Fallstricke von Literatur und Geschichte”

  1. Günter Landsberger

    Des Mottos wegen auch hier noch einmal wiederholter Kommentar:

    Ein zum Motto gemachter Augusto-Monterroso-Satz
    ein Ironiesignal fürs ganze Buch?

    Der erste Autor, der uns nach dem Autorennamen Roberto Bolano im vielleicht „Roman“ (S.2) zu nennenden Gattungsverweigerungsbuch „Die Naziliteratur in Amerika“ namentlich begegnet, ist ebenfalls kein fiktiver, sondern der real vom 21.12. 1921 bis zum 07.02. 2003 lebende, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von DNLIA also noch am Leben befindliche Schriftsteller Augusto Monterroso. Sein komplexer Satz „Wenn der Fluß langsam fließt und man ein gutes Fahrrad oder ein Pferd hat, kann man durchaus zweimal (sogar dreimal, im Einklang mit den hygienischen Bedürfnissen eines jeden) im selben Fluß baden.“ reagiert mit unverkennbar ironisch-humorvollem Einschlag in Form einer Gegenrede auf Heraklits bekanntes Fragment: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“
    Ist nun aber das, dieser Satz bzw. diese Motto-Wahl, – verbunden mit dem ernsten Nazi-Thema des Buches – die spielerische Variante zum Brechtschen Diktum „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“?

  2. Jan Fries

    Mir ist beim Lesen des Buches ein weiteres kleines Detail aufgefallen: Harry Sibelius schreibt „Hiobs wahrer Sohn“ auf 1.333 Seiten – die Hälfte von 2666! Wieviele Seiten hat 2666 eigentlich im Original?

  3. Günter Landsberger

    „2666“ hat in der (posthum erschienenen!) originalsprachlichen Ausgabe ohne das Nachwort des Herausgebers 1119 Seiten.

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