Da capo
Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass nichts stimmt von dem, was Urrutia in seiner letzten Nacht erzählt. Warum erzählt er es dann? In Abwandlung des berühmten Satzes von Wittgenstein könnte man sagen: Wenn man über etwas nicht sprechen kann, muss man über etwas anderes sprechen. Neurodermitiker wissen: man kann das Kratzen nicht völlig unterlassen, aber man kann dort kratzen, wo es nicht gefährlich ist. Oder vielleicht auch in der Nähe der Stelle, die gefährlich ist… ruhig noch ein wenig näher…
Das ist auch das eigentlich Perfide an Lügen: Sie nähern sich früher oder später wieder der Wahrheit an, ganz einfach deshalb, weil der Lügner ja Material braucht für seine Lügen, und woher soll er das nehmen, wenn nicht aus seinem eigenen Leben (oder aus seiner eigenen Lektüre)?
Beim zweiten Lesen dieser Beichte, die keine ist (und dann wieder doch), nehmen wir alles, was gesagt wird, als einen Traum (inklusive diverser Träume im Traum). Dabei geht es nicht darum, die einzelnen Symbole aufzuschlüsseln, sondern besonders den Bruchstellen nachzugehen, den Übergängen zwischen den einzelnen Episoden. Interessanterweise besteht der Roman ja aus nur zwei Absätzen, wovon der zweite in einem einzigen Satz besteht, der erste den kompletten Rest umfasst. Diese vorgebliche Nahtlosigkeit verlängert die Lüge bis in die Typografie, sie verschleiert die Brüche und Verwerfungen, die das Leben dieses Erzählers ausmachen. Eine ganz praktische Annäherung an eine mögliche Interpretation bestünde deshalb in einer einfachen Manipulation des Textes: Setzen wir Absätze!
One Response to “Da capo”
Ergänzend zu Deiner Wittgenstein-Abwandlung, lieber Thorsten, möchte ich auch noch einen Dostojewskij-Passus aus dem Roman „Der Idiot“ heranziehen. Da nämlich heißt es (aus dem Gedächtnis zitiert): „Man kann gar nicht davon sprechen, man muss von etwas ganz anderem sprechen. Wenn man davon spricht, wird man irgendwie nicht davon sprechen. Wenn man nicht davon spricht, wird man irgendwie doch davon sprechen.“ Diese Stelle bei Dostojewskij erläutert die These, dass „das Wesen des religiösen Gefühls“ nicht zu definieren, nicht dingfest zu machen sei, ja etwas sei, „woran alle Philosophien und Atheismen“ zwangsläufig abgleiten würden. – Ich möchte nun das obige Zitat anders als bei FMD selber, aber mit Blick auf unseren Zusammenhang, auf die Frage nach der Wahrheit hin zuspitzen.
Urrutia Lacroix mag noch so sehr – auch gegen seinen eigenen Willen – ein Mann der Lüge, der Täuschung und der Selbsttäuschung, der ideologischen Befangenheit und der Verdrängung, auch der Halbwahrheit(en) sein, es gibt – in einem gelingenden Kunstwerk ganz gewiss – so etwas wie „eine Wahrheit der Lüge“.
Zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Formen von Verzweiflung hatte Dostojewskijs Zeitgenosse Kierkegaard unterschieden: a) Verzweifelt, man selbst sein zu wollen. b) Verzweifelt, nicht man selbst sein zu wollen.