Das Ende ?

Ich weiß noch nicht, wie ich dieses Ende finden soll. Wenn ich es vom Anfang her lese, bin ich enttäuscht, denn Auxilio ist ihrer Ankündigung nicht nachgekommen: Sie wollte eine „Horror-Geschichte“ erzählen, aber sie hat nicht eine, sondern viele Geschichten erzählt. Durch die in der ersten Hälfte immer wieder eingestreuten Hinweise auf Lilian Serpas entstand bei mir der Eindruck, dass alle die Anekdoten vielleicht nur Ablenkmanöver sind, und irgendwann die eigentliche Geschichte erzählt würde. Aber dann ist auch Lilian Serpas mit ihrem Sohn nur eine weitere Anekdote. Was also ist nun die „Horror-Geschichte“ – die Summe der einzelnen Geschichten oder doch noch etwas anderes, das verdeckt bleibt?

Vielleicht ist dieses Ende, das nahe am Kitsch angesiedelt ist, doch eher der Wahnsinn als eine Vision der Hoffnung. Der in seiner Schlichtheit so entschiedene letzte Satz schließlich erinnert mich an den letzten Satz von Bret Easton Ellis‘ Roman „Glamorama“, der 1998, also ein Jahr vor „Amuleto“ erschienen ist, er lautet: „Die Zukunft ist dieser Berg.“(Weiß eigentlich jemand, was Christian Kracht von Bolaño hält? Das würde mich sehr interessieren.)

20 Responses to “Das Ende ?”

  1. Günter Landsberger

    Auxilio Lacouture erzählt tatsächlich nur eine einzige Horrorgeschichte, die von ihr aber als solche auch exemplarisch für vergleichbare Vorgänge in ganz Lateinamerika verstanden wird. Auxilios grundlegend erfahrener Horror ist der der Massentötungen auf der Plaza de Tlateloco. Dem vorausgegangen ist das, worauf sie als unversehens auf der Damentoilette eingesperrte Augen- und noch mehr Ohrenzeugin immer wieder vergegenwärtigungsfixiert und exklusiv zurückkommt: das gewaltsame Eindringen der Panzergrenadiere der mexikanischen Machthaber in die autonome Universität der Hauptstadt (ihrem Bewusstsein nach mit allen Folgeerscheinungen). Die Gewalttaten selber werden also nicht vorgeführt, werden nicht ausführlich gezeigt, nicht ausgemalt. Dass aber eine wahre Horrorgeschichte genuinerer Art hier ihren Ausgang nimmt und dass dies von Auxilio Lacouture auf ihrem Nebenschau- bzw. Nebenhörplatz von der Damentoilette aus ansatzweise mitbekommen wird, ist unstrittig. Diese Erfahrung eines Teils der ganzen (für sie selber eher glimpflich ausgehenden) Schreckensgeschichte ist für sie, die Phantasievolle, hinreichend, um sich des ganzen Schreckens, der dann eben auch nicht selber erzählt werden muss, gegenwärtig zu sein. Dementsprechend ausgespart wird ja auch der ggf. von Arturo Belano her durchaus erzählbare Horror im Chile von 1973 bzw. der von 1974. Die eigentlichen Horrorgeschichten , ob nun in Chile, in Mexiko oder in Uruguay können, ja müssen wir sonach in diesem Roman immer nur zwischen den Zeilen mitlesen. Die grundlegende Erfahrung Auxilios von Terror und Horror ist zwar nur eine eher harmlose Detailerfahrung, die aber – unsere und ihre Einbildungskraft vorausgesetzt – für das Ganze des Schreckens steht bzw. stehen soll. Von dieser persönlichen Teilerfahrung aus, auf die sie immer wieder zurückkommt, gewinnt der ganze Roman seine erzählerische Grundlage und grundständige Anlaufsituation: Hier ist er wohl, „der Flughafen, von dem“ die „Visionen und Träume“, aber auch sämtliche Teilerzählungen starten
    (S.133).

  2. dietmar Hillebrandt

    Ich glaube, Herr Krämer versteht unter einer „Horrorgeschichte“ das gleiche, mit dem auch der Hanser Verlag „2666“, nach meiner Meinung völlig daneben ,versuchte zu vermarkten. Bei Hanser mag es wohl auch daran liegen, dass nur wenige Lektoren lesen, die anderen vermarkten mit möglichst interessant klingenden Klappentexten. Anekdoten sind die eingeschobenen Erzählungen auch nicht. Dass der Schluss „nahe am Kitsch angesiedelt ist“ vermag ich wie bei der von Herrn Landsberger völlig richtig erkannten Gesamtthematik überhaupt nicht nachzuvollziehen.

    @Easton Ellis
    Bolaño schrieb diesen Roman vor 1999!

    @Christian Kracht
    Ein Urteil steht mir gar nicht zu, aber medienästethische Jungautoren mit Selbstdarstellungsdrang finden zumindest nicht mein Interesse.

  3. Thorsten Krämer

    Was auch immer ich unter einer Horrorgeschichte verstehen mag, es ging mir in meinem Beitrag um den Singular. Auxilios erster Satz lautet: „This is going to be a horror story.“ Diesen von ihr selbst eingeführten Rahmen schließt sie im 14. Kapitel mit einem schlichten, aber deutlichen „And that is all, my friends.“ Und zwar in dem Moment, als ihre Zeit auf der Damentoilette vorbei ist und sie sich im Büro von Professor Rius befindet. Demnach meint sie selbst mit der Horrorgeschichte ihren Aufenthalt auf der Toilette. Das Massaker auf der Plaza de Tlateloco ist also keineswegs die Geschichte, die Auxilio erzählt, auch nicht durch Auslassung. Der Horror, den sie meint, ist tatsächlich ihr eigener Horror – zwei Wochen in völliger Isolation und ohne Essen. Dieser Horror wird gewissermaßen ex negativo dargestellt, indem Vor- und Rückblicke auf Auxilios Leben die Leere und Ereignislosigkeit dieser Zeit auf der Toilette in der Vorstellung des Lesers umso grauenhafter erscheinen lassen. Das ist auch schon alles, zumindest was Auxilios bewusstes Erzählen angeht.
    Bolano hingegen, der als Autor diese Rollenprosa geschrieben hat, arbeitet mit einer doppelten Verdeckungsbewegung, durch die paradoxerweise offen daliegt, was Auxilio selbst nicht sieht: Sie redet nämlich die ganze Zeit nur von sich. Erst auf dieser Ebene gewinnt das Massaker an Bedeutung: Denn während Auxilio auf der Toilette ausharrt, gehen in Mexico die Menschen auf die Straßen, riskieren ihr Leben und verlieren es. Gerade Auxilios Horror sichert ihr Überleben. Im 13. Kapitel unterhält sich Auxilio mit der Stimme über die das in den Anden abgestürzte Rugby-Team, das nur deshalb überleben konnte, weil die Sportler das Fleisch der Toten aßen. Kurz darauf antwortet die Stimme ihr „in psychoanalytic jargon“, woraus Auxilio schließt, dass sie (die Stimme) wohl aus Buenos Aires kommen muss. Der Inhalt des Gesagten wird aber nicht wiedergegeben – erneut eine Verdeckungsbewegung im Kleinen.
    In diesem Zusammenhang erscheint das Ende – also das, was nach dem eigentlichen Ende – „and that is all, my friends“ – noch erzählt wird, in einem anderen Licht. Die Vision der singend in den Tod marschierenden Kinder ist tatsächlich Kitsch – eine pathetische Rechtfertigung des eigenen Überlebens. Nur durch die Überhöhung des Todes der Anderen kann Auxilio vor sich selbst rechtfertigen, dass sie NICHT gestorben ist. Der letzte Satz (der in der Kürze der englischen Übersetzung in seiner ganzen Emblematik zum Tragen kommt) hypostasiert diesen Umgang mit der persönlichen Schuld: „And that song is our amulet“. Das Verdrängte wird zu einem Ding, das für alle sichtbar als Schmuck am Körper getragen wird -und dessen wahre Bedeutung die Trägerin in ihm gebannt hat.

  4. Thorsten Krämer

    Natürlich ist diese Schuld immer auch die Schuld des Autors – der ja nur schreiben kann, weil er selbst überlebt hat. Live to tell, wie man im Englischen so treffend sagt. Vielleicht liegt hier der Schlüssel zu Bolanos Beschäftigung mit der Gewalt?

  5. Thorsten Krämer

    Noch ein letztes Detail: Es fällt doch auf, lieber Günter, dass du in deinem Kommentar selbst zwei Mal darauf hinweist, dass Auxilio gewissermaßen Glück im Unglück gehabt hat:
    „Diese Erfahrung eines Teils der ganzen (für sie selber eher glimpflich ausgehenden) Schreckensgeschichte…“ und
    „Die grundlegende Erfahrung Auxilios von Terror und Horror ist zwar nur eine eher harmlose Detailerfahrung…“
    😉

  6. Günter Landsberger

    Lieber Thorsten, Deine ausführliche Darstellung heute finde ich doch recht überzeugend. (Von meinen verbleibenden Zweifeln an der Berechtigung der von Dir durchgeführten, sicherlich diskussionswürdigen Psychologisierung Auxilio Lacoutures sehe ich einmal ab.) Nur Weniges sei noch hinzugefügt.
    Der penetrante, eintrichternde Hinweis auf das Genre „Horrorgeschichte“ gleich im Eingangsbereich zum Romans „Amuleto“ hatte für mich von Anfang an eine vergleichbare Qualität wie die des Untertitels von Wilhelm Raabes Roman „Stopfkuchen“. Dort heißt es nämlich ähnlich irreführend für die Lesererwartung oder besser für die Erwartung einer ganz bestimmten Zielleserschaft: „eine See- und Mordsgeschichte“. Eine Seereise als Rückreise in die Heimat wird am Anfang nur ganz kurz erwähnt, einen „Mord“ hat es tatsächlich gegeben, aber der ist als Verbrechen längst verjährt, und in der Hauptsache handelt der Roman von etwas ganz anderem. Der Untertitel klingt nach Sensation und Event (würde man heute vielleicht sagen), ist aber – zum höllischen Vergnügen des Autors? oder aber des alles gleich durchschauenden Lesers?, der dann nämlich das „Glück“ hätte, sich ganz schlau vorkommen zu dürfen -bewusst irreführend, leitet ganz bewusst auf eine falsche Fährte.
    Es gehört insgesamt zur Erzählstrategie des Romans „Amuleto“ direkte Gewaltdarstellungen strikt zu vermeiden. Dementsprechend hat auch der so gefährlich, ja so todesgefährlich inszenierte nächtliche Besuch in der Unterwelt, in der Höhlenhölle des Stricherkönigs einen tagtraumhaft günstigen Verlauf. Mich erinnert das der Art und Struktur nach geradezu an die Romanzendichtung des frühen 19. Jahrhunderts: Ich denke dabei an einige Romanzen (nicht nur des „Romanzero“) bei Heinrich Heine, aber auch an eine derart hinreißende musikalische Romanze wie die des Ännchen aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“: eine gefährliche Spannung wird erzeugt, die sich am Ende pointiert, sei’s nun grotesk-komisch oder glimpflich-harmlos auflöst.
    Sehr gut verstehe ich auch, dass RB im Interview Stendhal so hochgehalten hat. Im Roman „Die Kartause von Parma“ lässt Stendhal seinen „Helden“ Fabrice del Dongo in seiner Napoleonbegeisterung auf das Schlachtfeld von Waterloo gelangen bzw. mitten hineinstolpern; man lese in diesem ganz hervorragendem Kapitel dieses Stendhal-Romans nach, wie von diesem bedeutsamen geschichtlichen Ereignis erzählt wird, ohne davon zu erzählen.
    Mit den in „Amuleto“ nur angedeuteten, entscheidenden geschichtlichen Ereignissen verfährt RBs Erzählerin Auxilio ganz ähnlich. Eine gewisse von RB gesteuerte Redlichkeit schwingt wohl auch mit, in solchen Fällen nur von dem zu erzählen, bei dem man wirklich dabei gewesen ist. Soll und kann man Auxilio Lacouture vorwerfen, dass sie wegen ihrer profan veranlassten Lyriklesung auf der Toilette, weil ihr eben die Natur kam, zufällig der Gewalt entgangen ist und damit womöglich auch einem vorzeitigem Tode?
    Interessant und provozierend ist die gewählte Kloperspektive des Romans, nachdem es bei einem anderen Autor (Otto Julius Bierbaum) um 1900 ja bereits schon einmal eine Froschperspektive gegeben hat. Das Klo als dichterischer Ort, als locus amoenus, wird auf Seite 153 gleichwertig (!) in eine Reihe gestellt mit anderen dichterischen Orten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überall in der Welt: Exemplarisch werden genannt der Schützengraben (vgl. so manche expressionistische Lyrik + Theodor Kramer + Ernst Jandl / aber auch viele Zeugnisse der Kriegs- und Antikriegsliteratur des 20.Jh.s), Duino (vordringlich Rilke, aber nicht nur) und die mexikanische Epiphanie (mexikanisch: also Carlos Fuentes und außermexikanisch: James Joyce).

    – Exkurs: Hier liegt – neben der Bildhaftigkeit des „Tals“ – wahrscheinlich ein Grund dafür, warum im Roman immer wieder das Bild „La región mas transparente“ direkt zitiert wird und sein Maler Dr. Atl; nie aber ganz offen das mindestens ebenso wichtige Romanwerk mit demselben Titel von Carlos Fuentes. –

  7. Günter Landsberger

    „Y ese canto es nuestro amuleto.“, lautet der Schlusssatz kaum weniger lapidar als in der englischen Übersetzung im Original.
    „Canto“ ist aber stärker und treffender als „song“ im Englischen oder „Lied“ im Deutschen. Hierbei darf man nämlich noch zusätzlich an die Kapiteleinteilung (in Gesänge) in Dantes „Göttlicher Komödie“ und an die Cantos von Ezra Pound denken. Und beide, Dante und Pound, kommen ja verschiedentlich und durchaus exponiert in „Amuleto“ vor.

  8. Günter Landsberger

    Mit dem Kitschvorwurf, lieber Thorsten, machst Du ja ein richtiges Fass auf. Hermann Broch, der große Romancier („Die Schlafwandler“), hatte in einem noch immer lesenswerten Essay den Kitsch als „das Böse in der Kunst“ bezeichnet.
    Ich weiß zwar, dass es in der Weltliteratur kaum einen Autor gibt, der nirgends in seinem Werk etwas Kitschiges hinterlassen hat, wer das auf die deutsche Literatur beschränkt nachprüfen will, der lese Walter Killys Sammelbändchen „Deutscher Kitsch“, aber im Schlusstableau von „Amuleto“ hatte ich im Unterschied zu Dir diesen Eindruck durchaus nicht. Allerdings hatte ich ihn früher schon einmal bei RB, wenn auch sehr selten: das Bild von dem durch die Wüste marschierenden Schneemann empfand ich (im Unterschied zu Euch anderen) von Anfang an als schief, wenn nicht als kitschig, als allenfalls nur gedanklich zu retten.
    Dennoch: niederer und hoher Stil, Kloake und Gipfelsicht, Tragik und Komik, ganz lange und ganz kurze Sätze, Anschauliches und Tiefgründiges wechseln bei Bolaño nach Bedarf einander ab oder treten in einer kühnen Mischung auf. Warum sollte Bolaño nicht gelegentlich auch Passagen, die den Kitsch streifen, in sein Schreiben aufnehmen können und wollen? In der Musik haben das Komponisten wie Mahler (Symphonien) oder auch Bartók (parodistische Integration eines Lehár-Schmachtfetzens in Bartóks „Konzert für Orchester“) ja bereits unüberhörbar gemeistert.

  9. Dietmar Hillebrandt

    Die ausführliche Darstellung Thorsten Krämers hat mich auch beeindruckt. Es ist also die erlittene „Horrorgeschichte“ Auxilios gewesen und bezog sich nicht auf die Rezeptionshaltung gegenüber dem Roman.
    Mir ist nachträglich am ersten Absatz aufgefallen, dass ja auch nicht nur von einer Horrorgeschichte die Rede ist, sondern von einer „Verbrechergeschichte“ (Anspielung auf Kriminalromane allgemein oder Erzählungen à la Poe) und auch der „Film Noir“ zur Beschreibung heranzitiert wird: „ein Ding aus der schwarzen Serie“. Dann besteht Auxilio deutlich darauf, dass es nicht nach alldem klingen wird, weil sie (dabei kann ich nicht umhin auch an den Autor selbst zu denken)diese Geschichte erzählen wird. Dann kommt sie allerdings zum Punkt, was es wirklich ist: „die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens.“ Ich bin eher von der Komplexität dieser Eröffnung, um ein Schachbild zu gebrauchen, beeindruckt. Sie läßt die Erwartung des Lesers meines Erachtens zunächst in der Schwebe, macht also neugierig, was noch so kommt.
    Der Begriff „Kitsch“ bezog sich also auf die Empfindungen Auxilios und nicht auf das letzte Kapitel in seiner Erzählweise, das war mir beim ursprünglichen Beitrag auch nicht klar. Ich finde an diesen Kommentaren kann man gut ablesen, dass es nicht darum geht, recht zu haben oder die eigene Meinung zu verabsolutieren, sondern das wir alle, nicht nur von den Lehrern -:) zusammen schlauer werden.

  10. Günter Landsberger

    Als ehemaliger Lehrer darf ich sagen: Wer nicht auch von seinen Schülern – wie von anderen Menschen auch – zu lernen vermag, ist nie ein guter Lehrer gewesen.
    Schon als junger Mensch, lange bevor ich Lehrer wurde, habe ich mit 20/21 in mein (zwei Jahre lang geführtes) Tagebuch geschrieben: Ich werde zeitlebens ein Schüler meiner eigenen Möglichkeiten bleiben. (Dabei war ich mir bewusst, dass dies so ähnlich wohl für jeden Menschen zutreffen wird bzw. zutreffen könnte.)

  11. Andreas Gierth

    Für Dietmar. Aus der Apostelgeschichte. Weil mir das Ende seines letzten Kommentars so gut gefällt. 🙂

    „Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach:
    Wie kann ich, so mich nicht jemand anleitet?“ (Apg 8,30f.)

  12. Thorsten Krämer

    Freut mich, dass meine Lesart Anklang findet 😉
    Übrigens fühlt sich Auxilio ja im 14. Kapitel wie Arthur Gordon Pym – ein weiterer Verweis auf das Thema Kannibalismus und Überleben! (vgl. die Inhaltsangabe der deutschen Wikipedia, 4. Teil: http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Bericht_des_Arthur_Gordon_Pym#Inhalt)
    Was den Kitsch angeht: der wäre ja nur schlimm, wenn er Bolano unterliefe, aber meiner Meinung nach ist er ganz bewusst eingesetzt. Mir fallen dazu zwei Beispiele aus dem Film ein: Brazil und die erste Kinofassung von Blade Runner, bei der Ridley Scott zu einem Happy End genötigt wurde und dieses dann so inszenierte, dass man es dem Film nicht wirklich abkauft: http://www.youtube.com/watch?v=4fCeH-WnJYM (Die Landschaft zum Schluss!)

  13. Thorsten Krämer

    Freut mich, dass meine Lesart Anklang findet 😉
    Übrigens fühlt sich Auxilio ja im 14. Kapitel wie Arthur Gordon Pym – ein weiterer Verweis auf das Thema Kannibalismus und Überleben! (vgl. die Inhaltsangabe der deutschen Wikipedia, 4. Teil).
    Was den Kitsch angeht: der wäre ja nur schlimm, wenn er Bolano unterliefe, aber meiner Meinung nach ist er ganz bewusst eingesetzt. Mir fallen dazu zwei Beispiele aus dem Film ein: Brazil und die erste Kinofassung von Blade Runner, bei der Ridley Scott zu einem Happy End genötigt wurde und dieses dann so inszenierte, dass man es dem Film nicht wirklich abkauft (die Landschaft zum Schluss!)

  14. Günter Landsberger

    „meiner Meinung nach ist er ganz bewusst eingesetzt“ –
    Mit dieser Version bin ich einverstanden.
    Das wäre ein wahres Kunststück: die Entkitschung des Kitsches durch seine gezielte Verwendung. So könnte man „das Böse in der Kunst“ durch Kunst entschärfen und für die Kunst zurückgewinnen. –

    (Oft ist das Verlogene, das wir Kitsch nennen, möglicherweise ja auch nur das verstiegen abgesunkene Ästhetische.)

  15. Günter Landsberger

    Von der Funktion im Roman her fühlte ich mich übrigens bei der Landschaft am Schluss auch an Vergleichbares in Arthur Schnitzlers kurzer Erzählung „Die Weissagung“ erinnert. Auch da gibt es die Vision einer Landschaft, die ganz am Schluss auf unerwartete Weise zum faktischen Ort einer einst gemachten Prophezeiung wird.)
    (Dass Autoren andere Schlüsse nahegelegt werden als ihre eigentlich vorgesehenen und sie sich – oft auf hinterhältige Weise – scheinbar darauf einlassen, findet man häufiger. Mir fallen dazu auf Anhieb Goethes Theaterstück „Stella“ und Döblins letzer Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ ein.)

  16. Dietmar Hillebrandt

    Gerade habe ich einmal den längeren Artikel „Kitsch“ im Brockhaus Literatur nachgeschlagen. Nur ein paar Stichworte:

    Adorno: „Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle“

    „Botschaft, deren besonderer Charakter in einer vor allem auf die Gefühle zielenden harmonisierenden und affirmativen Gestaltung und Rezipientenansprache besteht.“

    „Seit Postmoderne und Dekonstruktivismus, seitdem Christian Kracht, Christoph Schlingensief und Jeff Koons Kitsch in Literatur, Performance-Kunst und bildender Kunst einsetzen, ist eine Grenzziehung zwischen Kunst, Kitsch und schlechtem Geschmack schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden.“

    Kitsch ist also ein sehr relativer, nebulöser Begriff geworden. Umso mehr, weil nicht nur das Produkt, sondern auch der Rezipient mit seiner Wahrnehmung involviert ist, sollten wir oder Herr Krämer konkretisieren inwieweit einzelne Stellen oder die Gefühlsdarstellung Auxilios insgesamt, vielleicht auch sprachlich, den Eindruck von Kitsch erwecken können. Allein so stehengelassen, bleibt mir die Lesart von Herrn Krämer immer noch diffus. An welcher Stelle wird Kitsch als Stilmittel eingesetzt?

  17. Günter Landsberger

    Beachtenswert erscheinen mir sicher noch folgende Hinweise bzw. Umstände im Roman selber:
    1.) Auxilio als „weibliche Ausgabe von Don Quixote“ (S.28)
    2.) der neue, auf den ersten Blick poesiefernere Umgang des aus Chile zurückgekehrten, um mindestens eine Illusion ärmeren Arturo mit noch jüngeren als er selber: „eine Generation, die direkt aus der klaffenden Wunde der Plaza de Tlatelolco kam“, „aber weder auf der Plaza de Tlatelolco gewesen waren noch an den Kämpfen von 1968 teilgenommen hatten, Kinder, die zu dem Zeitpunkt, als ich eingeschlossen auf der Frauentoilette im vierten Stock der Fakultät saß, noch nicht einmal aufs College gingen. Das waren jetzt Arturos neue Freunde.“ … „Ihre Stimmen sagten, wir sind kein Teil von Mexikos Hauptstadt, wir kommen aus den U-Bahn-Schächten, der Unterwelt, aus der Kanalisation, wir leben dort, wo es am dunkelsten ist, am dreckigsten, dort, wo noch dem verwegensten jungen Dichter das Kotzen käme.“ … „Sie, das waren die Kinder der Kloaken, und Arturo war immer ein Kind der Kloake gewesen.“ (S.71)

    Von da aus zurück bzw. voran zu den „Kindern“ des Schlussbildes: Sind es immer wieder neue Generationen und immer jünger werdende, die wie ihre unmittelbaren Vorgängergenerationen unabdingbar und rettungslos dem Abgrund zustreben? Geht das immer so weiter? Oder hört das Scheitern der ins Gelingen Verliebten mal endlich auf?
    Und ihr Gesang? Ist das mehr als das Pfeifen im Wald?

  18. Dietmar Hillebrandt

    Soweit ich der „Lateinamerikanischen Literaturgeschichte“ von Michael Rössner entnehmen konnte, entsteht nach Tlatelolco eine sehr produktive Gruppe junger Lyriker, u. a. z.B. auch José Emilio Pacheco, die keineswegs nur „im Walde pfeifen“. Das „rettungslos dem Abgrund zustreben“ verstehe ich nicht nur im Zusammenhang mit dem Themenkomplexen Tod und Sterben, sondern auch darin, dass jedes Lied, jeder Gesang (Lyrik) immer irgendwann verhallt. Das Echo wird vielleicht von der darauffolgenden Generation wieder aufgenommen, aber die Dichter, die Lyrik und ihre Gesänge sterben nun einmal. In bezug auf die Begriffe Lied und Gesang (Ende von „Amuleto“) ist mir noch die Stelle in „2666“ S. 525f aufgefallen, wo eine ganze Seite aus den „Canti“ von Leopardi zitiert wird. Für mich ein weiterer Hinweis auf die Deckungsgleichheit von Lied und Gedicht.

  19. Günrter Landsberger

    Lied = Gedicht (wie schon mit Blick auf Dante und Ezra Pound – vgl. Romantext – von mir gesagt; Leopardi ist aber ein weiteres gutes Beispiel dafür)
    Die Seiten 406 – 423 in der Literaturgeschichte Rössners („Mexiko 1968 – 1995: das Trauma von Tlatelolco und die Folgen“) habe ich auch gelesen. Nicht von außen gehe ich aber an den Romantext heran, sondern in erster Linie unter Wahrung der in ihm gewählten Perspektive einschließlich der Auslassungen, wie man sie von außen her nennen könnte.
    Im Übrigen: gilt Pacheco als ein junger Lyriker? Und – ich wiederhole bereits Gesagtes -: Sind die jüngeren Leute, mit denen sich Arturo nach 1974 (nach Chile! in „Amuleto“!) abgibt, vornehmlich Schriftsteller? (Ich bitte um Textbelege!)

  20. Dietmar Hillebrandt

    @Landsberger
    Pacheco war zu alt (ca. 30), da haben sie recht. In der Literaturgeschichte wurde er aber auch als einer der Lyriker genannt, die soziale Mißstände, also bildlich „die Kinder der Kloake“ beschreibt. Mag auch sein, dass die „jungen Leute“ keine jungen Dichter waren, aber dann haben andere ihr Lied/Leid gesungen. Arturo bleibt ja auch mit dem zum Freundeskreis der Viszeralrealisten gehörenden Ernesto befreundet. Vielleicht befreundete sich Arturo mit diesen sozial Ausgestossenen, weil er nach Chile ganauso hoffnungslos war wie diese, von denen niemand sprach. Vielleicht ist das Amulett, das schließlich übrig bleibt dieser „gemeinsamen Wunde“ (Mexiko: Tlatelolco; Chile: Pinochet) entsprungen, ein Buch, das nie geschrieben wurde, ein ungesungenes Lied und vielleicht ist das der Grund, warum es „Amuleto“ überhaupt gibt. Eine durchaus politisch gemeinte Erinnerung, gegen das Vergessen und für eine Hoffnung der Ungehörten und Hilflosen.

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