Der Blick durch das Fenster
Das Zeugenbewusstsein meint einen Zustand bei dem Wahrgenommenes und Wahrnehmender miteinander vollständig verschmelzen. Dies stellt wohl der Blick durch das Fenster dar.
Bei Julio Cotázar stellt sich die Wirklichkeit her als Ereignis einer jeweiligen bestimmten Art zu beobachten. Sein Zeitgenosse, der Filmemacher Antonioni, trifft sich mit ihm an dem Punkt, wo ein Wesen durch eine bestimmte Art wahrzunehmen charakterisiert wird – so etwa der Fotograf Thomas in „Blow Up“, oder die Ehefrau Giuliana in „Il Desero Rossa“. In zuletzt erwähnten Film trifft die äußere Realität der hauptsächlich vom männlichen Bewusstsein bestimmten Aussenwelt und die phantasmagorisch ästhetische Wahrnehmung des weiblichen Blicks unversöhnlich aufeinander. Antonioni analysierte an Hand dieser Unversöhnlichkeit die Krankheit unserer Zivilisation.
In „DWD“ bilden nun die Zeugenaussagen zusammen so etwas wie ein Kaleidoskop möglicher Wahrnehmungsweisen, mit ihrer jeweils dazugehörigen, ganz einmaligen, Realität. All diese Wahrnehmungsweisen sind aber auch miteinander verbunden, eben dadurch, das sie jeweils ganz spezifisch sind.
Es ist genau dieses Thema, welches am Anfang von „2666“ wieder aufgenommen wird, wo wir uns quasi bereits auf der anderen Seite des Fensters wieder finden. Die Kritiker teilen hier zwar alle eine gemeinsame Schnittmenge – bestehend aus dem Autor Archimboldi und sich selbst, als Gruppe von Wesen aus verschiedenen Kulturen, die sich alle gemeinsam für diesen Autor interessieren – aber sie werden zu einem Teil von dieser Schnittmenge nur in die irre Leere der Wüste geführt. (Wie auch alle Leser, die nicht aufpassen…) Was Morini und Norton davor bewahrt sich in dieser Wüste zu verirren, ist die Erkenntnis, die in der Geschichte von Edwin Johns verborgen liegt. Und die die Spiegelverkehrte der Geschichte von Archimboldi bildet.
Was kann uns dies alles sagen wollen? Wohlmöglich dieses: Solange wir uns nicht unserer ganz eigenen Sicht aufs Dasein bewusst geworden sind, und dieser auch in unserem Leben gerecht werden, indem wir ihr authentisch mit dem wie wir leben/schreiben/denken/sprechen/handeln Ausdruck verleihen, solange werden wir zwangsläufig von den Fiktionen und Illusionen die uns umgeben, und die oft von anderen Menschen ausgehen, in die Irre geführt.
Es geht also um das sich Herausbilden der Einheit von Leben und Werk, so wie wir es eben im letzten Teil von 2666 ansatzweise dann dargestellt bekommen. Und dies ist dann auch das eigentliche Vermächtnis dieses Autors, welches er uns hinterlassen hat: Der Blick weit über den bloßen Rahmen des Fensters hinaus…
Was Morini und Norton davor bewahrt sich in dieser Wüste zu verirren, ist die Erkenntnis, die in der Geschichte von Edwin Johns verborgen liegt. Und die die Spiegelverkehrte der Geschichte von Archimboldi bildet. Bei Morini und Norton finden weiblicher und männlicher Blick zu einer höheren Synthese, sie entkommen den durch den Filmtitel von Nicolas Roegs Meisterwerk sprichwörtlich gewordenen „Bad Timing“.
One Response to “Der Blick durch das Fenster”
Bei Peter Waterhouse („(Krieg und Welt)“,Salzburg Wien 2006, S.311) lese ich gerade – hierzu passend:
„War Sehen vielleicht Gleiches Sehen, die Gleichungen Sehen?“ (…)
„War Wahrnehmung eine Gleichung? Um die fünf da am Ufer zu sehen, mußte ich der sechste werden?“ (…) „Um die Frau zu sehen, mußte ich wie die Frau werden? Um zu sehen, mußte ich über die Grenzen gehen -“
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Und stichwortartig weitere Anknüpfungsmöglichkeiten:
a) Berkeley: „Esse est percipi“ (Sein ist Wahrgenommenwerden)
b) Samuel Beckett: „Film“
c) Das Fenster bei E.T.A. Hoffmann (z. B. in „Meines Vetters Eckfenster“), Stifter, Raabe, Kafka (z. B. in „Eine kaiserliche Botschaft“)
d) Das Individuum bei Leibniz als „fensterlose Monade“
e) „Innovativ“, fortschrittlich (?) gemeinte Schulbauten der 70er Jahre (ganz bewusst ohne Fenster)
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Den ersten Satz des sehr anregenden Beitrages „Der Blick durch das Fenster“ („Das Zeugenbewusstsein meint einen Zustand bei dem Wahrgenommenes und Wahrnehmender miteinander vollständig verschmelzen.“) hätte ich selber übrigens um eine Nuance anders geschrieben. Hinter das Wörtchen „vollständig“ hätte ich entweder ein Fragezeichen gesetzt oder zuvor ein „irrigerweise“ eingefügt.