Der Teil der Kritiker (- S. 72 HC / 75 TB)
Heute geht es los! In dieser Woche (26.9. – 2.10.) schauen wir uns noch einmal die ersten ca. 70 Seiten von 2666 an. Wir greifen nicht vor! Zum Einstieg empfehle ich den neuen Bolañisten, die das Buch zum ersten Mal lesen noch die Beträge zum Titel 2666 und zum Baudelaire-Motto, das dem Roman vorausgeht.
In dieser Woche diskutieren wir also die ersten Seiten des Romans. Für die alten Bolañisten liegt dabei natürlich die Frage auf der Hand, wie sich die eigene Wahrnehmung des Romans vielleicht schon verändert hat in den letzten Jahren. Deckt sich der erneute Leseeindruck mit der Erinnerung an die erste Lektüre? Wie ist es, den alt bekannten Figuren wieder zu begegnen?
Interessant wäre von den neuen Bloggern zu hören, ob sich der erste Leseeindruck mit der eigenen Erwartung deckt. Ist es schwierig oder eher leicht in den Roman „reinzukommen“? Vielleicht gibt es auch schon erste intertextuelle Verbindungen, die Ihr aufgespürt habt, die den Bolañisten der ersten Stunde noch entgangen waren?
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18 Responses to “Der Teil der Kritiker (- S. 72 HC / 75 TB)”
Guten Morgen allerseits. – Schon der Beginn von „2666“ interessiert, fasziniert mich noch immer; auch wenn mein Leseblick mittlerweile etwas modifiziert sein mag, meine Leseweise möglicherweise eine neue geworden ist; vieles von dem, was ich inzwischen gelesen habe (von Bolaño und von so manchem anderen), spricht da neu mit. Was bleibt, ist der Haupteindruck des Anfangs: 4 junge bis zur Begeisterung literaturinteressierte Menschen in 4 verschiedenen Ländern begegnen unabhängig voneinander, aber zeitnah, und lange bevor sie einander begegnen, dem einen oder anderen Werk (nie ganz dem gleichen!) eines zunächst (ihnen und auch allgemein) kaum bekannten deutschsprachigen Schriftstellers mit dem eigenartigen, italienisch klingenden Namen Benno von Archimboldi. – Wir werden als Leser Zeugen eines beginnenden Booms, erleben in der Fiktion den Beginn eines Booms, wie wir ihn in der Realität der Literatur beim plötzlichen Bekanntwerden der Werkes von Italo Svevo, von Elias Canetti und Roberto Bolaño u. a. selber erlebt haben mögen. (In der Musik ist Ähnliches mit dem symphonischen Werk Gustav Mahlers passiert. Heute ist es so präsent, dass man sich kaum noch daran erinnert, wie vergessen, wie beinahe verschollen, ja abgetan es einmal gewesen ist, noch in den 50er- und 60er-Jahren, wären da nicht einige wenige große Dirigenten gewesen, die unablässig und unverdrossen an diesem Werk festhielten und es gegen den Zeitgeschmack und seine Vorurteile hochhielten und aufführten.)
Ich lese das Buch ebenfalls zum zweiten mal, obwohl ich sonst eher eine Abneigung habe, dies bei Werken solchen Umfangs zu tun. Beim ersten Durchgang las ich immer größere Abschnitte mit zum Teil tagelangen Pausen dazwischen, so dass ich manchmal den Zusammenhang verlor. Diesmal versuche ich entsprechend dem Zeitplan kleinere Abschnitte aber dafür regelmäßig zu lesen.
Eine Sache die mir auffiel, ist das häufige Auftauchen der Zahl „Vier“. Zum Bsp. Pelletier, der 1980 zum ersten mal Archimboldi ließt und 1984 seine erste Übersetzung fertigstellt, das erste Zusammentreffen 1994 aller vier Wissenschaftler in Bremen, der Stadt der 4 Bremer Stadtmusikanten sowie Archimboldis Lederjacke mit „einer Knopfleiste, auf der vier wie mit Angelschnur angenähte Knöpe saßen,…“. Die Zahl „Vier“ läßt ja nun eine Unmenge Assoziationen zu. Inwiefern ist das anderen Lesern aufgefallen und was denkt ihr darüber?
Gruß Stefan
Nun ich gehe als Frischling an das Werk heran, für mich liegt es jungfräulich vor mir. Zur Einstimmung habe ich mich natürlich eingehend mit dem Autor beschäftigt, die südamerikanische Literatur habe ich ja letztes Jahr in Frankfurt kennen und lieben gelernt.
Nun ich war schon seit langen nicht mehr so gespannt darauf einen Roman zu lesen, ich habe mir vorgenommen wirklich nur die 70 Seiten und nicht mehr in einer Woche zu lesen, dafür diese aber mehrmals, um so einen tieferen Einblick zu gewinnen. Normalerweise lese ich ja ein Buch in einem Stück,lese es dann wieder aufs neue,eine neue Art, ein Experiment für mich sich an einen Roman heranzugehen.
Man kann ja bekanntermaßen jedes Buch nur einmal „zum ersten Mal“ lesen, jedes weitere Mal ist an gewisse Erwartungen geknüpft, man ist voreingenommen und sucht regelrecht nach Überlesenem, nach Neuem. Und das ist auch gut so!
Auch ich lese 2666 zum zweiten Mal, bin beim ersten Mal bin ich auf diese Seite hier gestossen, allerdings war die Diskussion da schon in vollem Gange, das Buch schon beinahe durchgesprochen. Dennoch bin ich der Diskussion gefolgt, immer nur soweit ich gelesen hatte. Dadurch habe ich die „alte“, erste Diskussionsrunde schätzen gelernt. Bolaño hat mich mehr und mehr eingenommen, mich fasziniert, so dass ich nach und nach auch die anderen hier besprochenen gelesen habe. Das erneute, bewusste, Lesen, macht mr bisher sehr viel Spass, manches erwarte ich, manches überrascht mich.
Über den Titel ist schon vieles geschrieben worden, zuletzt im Du-Magazin, alles ist möglich, wahrscheinlich werden wir es nie erfahren. Ein Roman aus der Zukunft, für die Zukunft, wer weiß?
Das Motto lässt auch einiges erwarten, Grauen oder Langeweile? Anfangs weder, noch! Die vier Kritiker, erstaunlicherweise kein Deutscher unter ihnen, im Gegenteil, die deutschen Archimboldianer stehen in Konkurrenz, sind für mich die westliche Welt: Franzose, Spanier, Italiener und Engländerin, die sich äußerst intensiv mit einem Deutschen beschäftigen, das umspann die ganze neuteitliche, westliche Welt, die Kultur des Abendlandes, fehlt nur noch das Griechische. Wir haben sie alle vier kennen gelernt, sie haben sich lieben gelernt, es beginnt wie ein Roman über Literatur, interessant, mit fundiertem Wissen und Bolaño spielt wieder mit erfundenen Bücher eines erfundenen Autors.
Entschuldigt bitte meine Rechtschreibfehler, ich war mit der „veröffentlichen“-Taste zu schnell, ich sollte besser erst lesen, dann veröffentlichen. 🙂
Die Frau im Bunde, Liz Norton, ist so ganz anders, manchmal sogar entgegengesetzt, wie ihre männlichen Kollegen, sie verfolgt keine besonderen Ziele, macht keinerlei langfristige Pläne, sondern lebt vor sich hin, ist gefühlbetont und -geleitet. Deswegen kommt sie auch nur durch Zufall zu Archimboldi, dann aber richtig, die Lektüre eines zweiten Buches (Bitzius) nimmt sie regelrecht gefangen. (Bei mir war es schon das erste Buch, nämlich eben 2666!)
“Wenn der Wille, wie William James meint, mit einem gesellschaftlichen Anspruch verbunden ist und es darum einfacher ist, in den Krieg zu ziehen als das Rauchen aufzugeben, könnte man von Liz Norton sagen, dass sie eine Frau war, der es leichter fiel, mit Rauchen aufzuhören als in den Krieg zu ziehen.” (TB S18)
Die “vierwinklige Figur der Archimbolianer”, die “niemand in ihre Mitte ließ”, nimmt Gestalt an und blüht erst gemeinsam so richtig auf, da stört auch keine Liebschaft, die Norton zu zweien von ihnen unterhält, dies scheint dem Quartett nur noch mehr Schwung zu verleihen.
Hmmm,wo soll ich anfangen? Es sieht hier nach einer Männerrunde aus, dazu noch weitgewandert mit den Werken von Bolano.
Eine kurze Erklärung: das ist mein erstes Mal: der erste Werk Bolano. Meine Recherchen habe ich bewusst kurz betrieben: ich bin zu neugierig auf meine ureigene Reaktion auf das Buch, ich bin so gerne quer :-).
Mit den vier Kritikern war kein großes Problem: Pelletier, „der fleischgewordener Wille“; Espinosa mit dem Groll in den Poren mit Potenzial eines Mörders (S.17.TB); Morino im Rollstuhl, den mag ich gerne. Norton, habe ich das Gefühl zu kennen.
Die Begeisterung, so wie ich sie fast sofort beim „Unendlichen Spaß“ von Wallace verspürt habe, hat sich noch nicht eingesetzt. Aber aber aber, es gab Stellen, die mich erahnen lassen, das es noch mein Buch wird. Eigentlich ist das schon mein Buch. Meine drei Lieblingsstellen in diesem Abschnitt: Die Geschichte in der Geschichte: das Pferderennen auf einem Landgut bei Buenos Aieres (S.34 TB); Frau Bubis und ihre Überlegungen über ihr eigenes Kunstverständnis versus eine professionelle Meinung ihres Freundes, des Kunsthisthoriker “ aber wie kenne ich sein Werk wirklich“ (Grosz und seine Zeichnungen S.42 TB)-einfach großartig! Es gibt immer ein anderes Ufer, wo die Menschen die gleichen Geschichten, Autoren, Kunstwerke, Glaubensrichtungen, Afghanistankrieg, ach, wenn ihr wollt alles- anders beurteilen, wahrnehmen, kommentieren, in eine Extase verfallen oder von Ekel kotzen.
Und die dritte Stelle-Morino und sein Alptraum und folgende Reise nach London (S.67 TB)
@Stefan / Das mit der „Vier“ in „2666“ ist mir auch aufgefallen. – Es wird für mich inzwischen in seiner Bedeutung noch dadurch verstärkt, dass auch in RBs frühem, jetzt unlängst (August 2011) in der deutschen Übersetzung von Christian Hansen bei Hanser herausgegebenem Roman „Das Dritte Reich“ ebenfalls die Vier eine große Rolle spielt, zunächst in der sich vor Ort allererst herausbildenden Gruppe von vier deutschen Spanienurlaubern, namens Ingeborg + Udo Berger, dem Ich-Erzähler, (aus Stuttgart) sowie Hanna + Charly (aus Oberhausen).
@Tatjana: Immerhin schon 3 Lieblingsstellen. Sehr schön! Alle 3 verdienen genauere Beachtung und erlauben jeweils ein Gespräch über sie. Wer knüpft an?
Während meiner Neulektüre stellt sich unversehens folgende These ein: Der Erzähler in „2666“ lässt uns Leser… unser Bild von dem uns zunächst ganz unbekannten zeitgenössischen deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi fortlaufend durch immer neue Details etwa so zusammensetzen, wie es seinerzeit der Maler Arcimboldo mit seinen allegorischen und nichtallegorischen Figurenporträts malend getan hat.
a) Die 4 Kriker… haben, wie wir Schritt für Schritt erfahren, je eigene Zugänge zum Werk Archimboldis gehabt, wodurch sie wechselseitig zwar perspektivisch variieren, sich aber auch mehr und mehr ergänzen; übrigens auch in der gemeinsamen Gegnerschaft zu bestimmten deutschsprachigen germanistischen Arcimboldianern.
b) Ein Beispiel:
Auf der Seite 20 der Fischer Taschenbuchausgabe lesen wir mit Bezug auf das Jahr 1991: „Pelletier hielt einen Vortrag zum Thema „Heine und Archimboldi. Konvergierende Wege“, Espinoza hielt einen Vortrag zum Thema „Ernst Jünger und Benno von Archimboldi. Divergierende Wege“.
Dass Pelletier und Espinoza auch von da her Freunde werden, miteinander sozusagen konvergieren, erscheint mir durchaus plausibel. Gleichzeitig wird Archimboldis Werk durch diesen detaillierten Doppelblick wiederum etwas eingegrenzt bzw. schon etwas näher bestimmt. Für Pelletier scheinen Archimboldi und Heine zunächst gegensätzlich zu sein, ehe ihre Wege schließlich konvergieren. (Wir erinnern uns an die damals zeitlich noch sehr nahe Konvergenztheorie mit ihrem politischen Bezug auf den Ost-West-Gegensatz.) Umgekehrt scheint Espinoza anfangs eine gewisse Nähe Archimboldis zu Ernst Jünger erblickt zu haben, von dem Archimboldi im Laufe seines schriftstellerischen Weges jedoch mehr und mehr abgerückt sei. Im Urteil beider Kritiker also, wenn man die Titel ihrer zwei Vorträge zusammensieht, hätte sich Archimboldi in seinem Werk positionell von Jünger weg auf Heine hin zubewegt. –
Wir vergessen im Übrigen nicht, dass der anfängliche Hispanist und erst spätere Archimboldianer Espinoza nach Hölderlin, Goethe und Schiller vor allem auf Ernst Jünger gestoßen ist, und zwar als ersten „modernen“, vielbesprochenen deutschen Autor, der ihm in Spanien (im faschistischen Spanien?) in Übersetzungen zahlreicher seiner Werke aber auch besonders leicht zugänglich gewesen war (vgl. TB, S.15). So färbt die eigene Vorgeschichte der Kritiker… das jeweilige Verständnis der Bücher Archimboldis. –
c) Mit Blick auf die Abfolge von Roberto Bolaños eigenen Werken lässt sich sagen, dass in „2666“ aus dem (in „Die wilden Detektive“ und im Komplex des im nächsten Jahr auch auf Deutsch erscheinenden nachgelassenen Bandes „Los sinsabores del verdadero policía“ noch) fiktiven französischen Schriftsteller J.M.G. Arcimboldi der deutlich später geborene fiktive deutschsprachige Schriftsteller mit dem größtenteils italienisch klingenden Namen Benno von Archimboldi geworden ist.
Variation und Wechsel gehören unabdingbar zu RBs gesamtem Werk. Man sollte sich vor unversehens plumpen Gleichsetzungen (auch bei noch so großen Ähnlichkeiten) in jedem Falle hüten. Arturo Belano und Roberto Bolaño sind voneinander vorsorglich ebenso zu unterscheiden wie der fiktive Deutsche Benno von Archimboldi von dem fiktiven Franzosen J.M.G. Arcimboldi, der noch dazu die Vornamenskürzelfolge von Le-Clézio erhalten hat.
d) Noch eins am Schluss: In „2666“ wird an zunächst vier Beispielen vorgeführt, wie die Lektüre von mindestens einem der gedruckten Bücher Archimboldis diese als junge Leute zu Archimboldianern und Kritikern (teils auch Übersetzern) gemacht hat. Bei Archimboldi alias Hans Reiter selber verlief das anders: Über die Lektüre eines zufällig entdeckten Manuskripts eines genuin schöpferischen Autors (Ansky) wurde er selber zum eigenständigen Autor, während seine eigenen späteren gedruckten Bücher bloß Kritiker zu zeitigen vermochten. Ist das das bittere Urteil des ganzen Romans, seine kritische Anfrage an den Literaturbetrieb?
Auch für mich ist es nach zwei Jahren die zweite Lektüre von „2666“ – und das erste Mal, dass ich ein Buch von Bolaño in einer (von Christian Hansen toll gemachten) Übersetzung lese. Persönlich empfand ich „2666“ beim ersten Mal als ein Buch, das mich weniger als andere Texte von Bolaño beeindruckte, wobei mir auch klar war, dass eine mit etwas Abstand bei solch einem Werk ein zweiter Blick nötig sein würde. Zwischendurch habe ich jede Menge Anderes von und vor allem auch über Bolaño gelesen, sodass ich zunächst einmal an die ersten Seite mit der Fragestellung gegangen bin: Was in „2666“ ist vielleicht typisch Bolaño und was ist vielleicht eher ungewöhnlich?
Als seltsam empfand ich zunächst einmal die Erzählerkonstruktion: Die Mehrzahl von Bolaños Romanen und Erzählungen werden von Ich-Erzählern dominiert, die in der ersten Person ihre Erinnerungen und Erlebnisse ausbreiten, gewissermaßen immer ein Stück weit im Modus des „testimonios“, der Zeugenschaft auftreten. In „2666“ dagegen haben wir es offensichtlich mit einem Erzähler zu tun, den Stanzel als auktorial bezeichnen würde, also eine Erzählinstanz, die über dem Geschehen steht und einen vollständigen Überblick über die raum-zeitlichen Bewegungen und Gedanken der Figuren hat. Hier stellt sich natürlich die Frage nach dem ‚Warum‘, die ich hier erstmal zur Diskussion in den Raum werfen möchte.
Ansonsten jedoch überwiegen meiner Meinung nach auf diesen ersten 70 Seiten die Kennzeichen, die auch die übrigen Texte Bolaños prägen: Zunächst einmal das Motiv der Suche und Pilgerschaft als Grundmotiv des Textes (S. 11/62), das wir aus „Die wilden Detektive“ kennen, das intertextuelle und intermediale Spiel mit Verweisen auf (fiktive) Texte und andere Medien, Erinnerungsbilder (in Form des virtuosen Sechs-Seiten-Satzes über den Schwaben und die Buenos-Aires-Sequenz), Archimboldi als Repräsentant eines bestimmten Autorenmodells, das wir von anderen Schriftstellern aus Bolaños Werk wie Sensini oder Leprince-Simon kennen (zunächst mal unbekannt und erfolglos, aber im Stillen an einem umfassenden Werk arbeitend, S. 14, 23 u. 26), Deutschland als Ambiente von Geschichten sowie plötzliche Gewaltausbrüche und –phantasien (S. 35).
Welche Frage sich mir im Kritikerteil dennoch stellt, ist die, wie man die Darstellung dieses Universitätsmilieus bewerten soll: Liest sich das Ganze eher als Spott oder Satire in Verbindung mit der grundsätzlichen Frage nach der Interpretierbarkeit von Kunst überhaupt (die Grosz-Szene auf S. 42 u. 43) oder ist es doch eher eine nur anders ambientierte, aber grundsätzlich positive Darstellung eines anderen, etablierteren Schlags von „Wilden Lesern“ und Bibliophilen? Vertraut mit diesem Umfeld war Bolaño nach seinem Aufstieg in die erste Riege der lateinamerikanischen Autoren durchaus. Interessant ist dabei vor allem die Tatsache, dass er selbst auch einmal zu einer Lesung an der Universität Göttingen im Rahmen einer Reihe namens „Lecturas románicas“ (so meine ich der Titel) war, bei der er also auch gerade mit diesem deutschen Universitätsmilieu in Kontakt kam. Interessant: Diese Reihe wurde damals in Göttingen u.a. von einem Hispanisten namens Burkhard Pohl organisiert – auch einer der Germanisten und Archimboldi-Interpreten trägt den Namen Pohl (ich halte nicht viel von irgendwelchen biographistischen Interpretationen, aber in dem Fall scheint mir dieser Zusammenhang einen Hinweis wert).
Was mein persönliches Geschmacksurteil dieser ersten Seiten angeht: eher dürftig, teilweise scheint natürlich der ironische Bolaño-Humor durch in den Kritikerbeschreibungen, die Traumsequenzen von Morini und Pelletier sind sehr interessant und auch die erwähnte Erinnerungspassage ist meisterhaft, aber wirklich mitreißend finde ich die Story bisher nicht, auch diese Dreiecksgeschichte irgendwo sehr dürftig und belanglos. Naja, ich meine aber auch in Erinnerung zu haben, dass der Kritiker-Teil derjenige war, der mir in „2666“ am wenigsten zugesagt hat.
nun das erste das mir während der Lektüre aufgefallen ist, die Verwendung von Wörtern die heute im Sprachgebrauch eigentlich nicht mehr geläufig sind, Ingrimm und Gran kennt wohl heute kein Kind mehr, geschweige denn das diese Wörter im Alltag verwendet werden. Das zeigt worauf ich als Lektor eigentlich gewohnt bin zu achten, die Wortwahl, der Ausdruck. Meines Erachtens wird hier sehr viel „gemalt“ mit Worten, dh. es ensteht ein plastisches Bild vor dem Leserauge.
Ich sehe die Bewertung hier eindeutig als Spott, als eine leichte substile Verhöhnung, „der Macht der Kritiker“.
Vor allem bin ich gespannt was noch auf mich wartet, wenn ein Schrifsteller es schafft einen Satz mit 168 Wörtern zu formulieren……dann freue ich mich richtig auf den nächsten Abschnitt.
nun das erste das mir während der Lektüre aufgefallen ist, die Verwendung von Wörtern die heute im Sprachgebrauch eigentlich nicht mehr geläufig sind, Ingrimm und Gran kennt wohl heute kein Kind mehr, geschweige denn das diese Wörter im Alltag verwendet werden. Das zeigt worauf ich als Lektor eigentlich gewohnt bin zu achten, die Wortwahl, der Ausdruck. Meines Erachtens wird hier sehr viel „gemalt“ mit Worten, dh. es ensteht ein plastisches Bild vor dem Leserauge.
Ich sehe die Bewertung hier eindeutig als Spott, als eine leichte substile Verhöhnung, „der Macht der Kritiker“.
Vor allem bin ich gespannt was noch auf mich wartet, wenn ein Schriftsteller es schafft einen Satz mit 168 Wörtern zu formulieren……dann freue ich mich richtig auf den nächsten Abschnitt.
Ich bin Zweitleser von „2666“ und habe mich gefragt, was wohl das Besondere des Anfangs dieses Romans ist. Da ist zunächst das Motto von Baudelaire. Es stammt aus dem Zyklus „Die Reise“ und dieser wiederum aus dem Zyklus „Der Tod“. Die Motive der Reise (s. auch Benjamin Loy) und des Todes sind beide von entscheidender Bedeutung für den Roman.
Die Strophe in dem Gedicht von Baudelaire heißt: „Bitteres Wissen, das man von der Reise mitbringt! Die Welt, ein- / tönig, eng und klein, heut, gestern, morgen, immer zeigt sie uns/ unser Bild: eine Oase des Grauens in einer Wüste der Lange- / weile!“
Was bedeutet hier die Rede davon, dass die Welt „uns / unser Bild“ zeige. Mir ist das nicht so ganz klar.
Was fällt noch auf zu Beginn des Romans? Zunächst wird von Pelletier gesagt, dass, als er zum „erste(n) Mal“ ein Buch von Archimboldi las, dass dieses Lesen „Erstaunen“ und „Bewunderung“ beim ihm hervorgerufen hätte.Ein paar Seiten weiter heißt es: „“Für sie (Liz Norton) war das Lesen unmittelbar mit Vergnügen verbunden, nicht mit Wissen oder Geheimnissen oder mit den Konstruktionen und Labyrinthen der Sprache, wie für Morini, Espinoza und Pelletier.“
Als er das erste Mal ein Buch von Archimboldi liest, staunt Pelletier also bezogen auf den Inhalt und nicht auf die Sprache über etwas, was mit Wissen oder Geheimnissen zu tun hat. Was offenbart ihm da Archimboldi in seinem Roman? Vielleicht ein ‚bitteres Wissen über die Welt‘ (s. Baudelaire). Ich weiß es nicht.
Ich höre an dieser Stelle mal auf. Gedanken hierzu von euch würden mich sehr interessieren.
Ich habe es mir sehr viel schwieriger vorgestellt in „2666“ einzusteigen, natürlich auch weil so ein Wälzer manchmal abschreckend wirkt…Der Schreibstil sticht einem natürlich ins Auge und was mich wirklich staunen ließ ist dieser ellenlange Satz, auf den Barbara auch schon angesprochen hat, da kann man ja schon nicht mehr von verschachtelten Sätzen sprechen.
Die Charaktere und die Freundschaft die durch das Interesse an Archimboldi entsteht sind durchaus interessant, wobei ich glaube, dass es auch noch zu Schwierigkeiten kommen wird. Ich bin gespannt, wie es weitergeht und finde es auch sehr spannend die Beiträge von den „Wiederholungstätern“ zu lesen.
Ich freue mich schon auf den nächsten Abschmitt.
Hallo! Ich musste fast eine Woche ohne Internet aushalten, und erst jetzt kann ich die Beiträge lesen. Das Motto des Buches habe ich überhaupt erst durch euch wahrgenommen (danke dafür). „Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langweile“…DAS GEFÄLLT MIR IRGENDWIE.
Ist die Dreiecksgeschichte von Norton, Pelletier und Espinoza nicht die Wüste der Langweile?
Den Humor von Bolano habe ich auch schon entdeckt. Und es bleibt für mich die interessanteste Stelle in diesem Abschnitt, ob philosophisch oder spottisch betrachtet, die: von Frau Bubis und dem Kunsthistoriker: Die Frau Bubis lacht wenn sie Zeichnungen von Grosz betrachtet, der Kunsthistoriker weint und verfällt in Depressionen. WER KENNT DAS NICHT? Wer kennt wen wirklich? Wer kennt uns wirklich? Kennen wir uns wirklich?
Sonst schließe ich mich der Meinung von @Benjamin an, und finde zumindest diesen Abschnitt eher unspektakulär, die Kritiker und ihre Kongresse langweilen mich, die Obsession für den Archimboldi kann ich nicht nachvollziehen, weil wiederum seine Werke und seine Figur eher verschwommen als geheimnisvoll auf mich wirken.
Ich bin aber schon beim zweiten Buch, und siehe einen an: ich bin begeistert.
Auf TB Seite 45 wird Pelletier und Espinoza klar, dass Archimboldi ihr Leben nicht ausfüllen kann, weil sie seine Werke zwar lesen, besprechen und analysieren , sich aber nie mit ihm „kaputtlachen oder mit ihm Trübsal blasen“ können, soll heißen sich nicht mit ihm selbst über sein Werk zu unterhalten. Sobald sie es erforschen würden, werden sie und jeder andere davon verschlungen. Sie begreifen, „dass sie Liebe, nicht Krieg machen wollten“. Geht es uns Bolañisten hier nicht ähnlich? Wir beschreiben was wir aus dem Text lesen, was wir dabei denken, aber ist es auch das was Bolaño damit gemeint hat? Wir werden es nie erfahren! Trotzdem machen wir uns diese Gedanken, für jeden ist dieses Buch etwas anderes, jeder hat so seinen persönlichen Bolaño, im Vergleich wird man hier auf die ein oder andere Sache aufmerksam, zum Glück! Ich glaube das ist ein Appell an die Leser, sich in Liebe einem Werk zu widmen und es nicht ktiegerisch, aggressiv zu behandeln.
Erst jetzt, beim zweiten Lesen ist mir aufgefallen, dass schon hier, im ersten Teilstück, auf Seite 63, zum ersten Mal die Morde in Sonora Erwähnung finden, Morini liest davon in der Zeitung und in ihm keimt der Wunsch mit der Journalistin in Mexico zu begleiten. Geschickt lenkt uns Bolaño hier aber davon ab, indem er im nächsten Satz verkündet, dass Morini die Sache bereits nach einer Stunde komplett vergessen hat. Auch ich hatte beim ersten Mal nach eingen Seiten schon nicht mehr daran gedacht. Das Fährtenlegen beherrscht er meisterlich, deswegen ich froh bin 2666 nochmal zu lesen, fallen mir doch Einzelheiten auf, die von großer Bedeutung sind, durch Bolaños Stil aber ziemlich (zumindest für mich) verschleiert daherkommen.
Lieber Andreas, ich beziehe mich zunächst auf den ersten Teil Deines Kommentars vom 1.10.:
„Da ist zunächst das Motto von Baudelaire. Es stammt aus dem Zyklus “Die Reise” und dieser wiederum aus dem Zyklus “Der Tod”. Die Motive der Reise (s. auch Benjamin Loy) und des Todes sind beide von entscheidender Bedeutung für den Roman.
Die Strophe in dem Gedicht von Baudelaire heißt: “Bitteres Wissen, das man von der Reise mitbringt! Die Welt, ein- / tönig, eng und klein, heut, gestern, morgen, immer zeigt sie uns/ unser Bild: eine Oase des Grauens in einer Wüste der Lange- / weile!”
Was bedeutet hier die Rede davon, dass die Welt “uns / unser Bild” zeige. Mir ist das nicht so ganz klar.“
Über das Motto haben wir (auch ich) ja schon einiges beim ersten Durchgang ins Netz gestellt. Manches davon (da kein eigener Beitrag) ist in den Kommentaren vielleicht untergegangen. Vielleicht fehlt uns hier eine Suchfunktion in Beiträgen UND Kommentaren nach Stichworten und Wendungen, um den Bezug immer schnell zu haben.
Hier direkt zunächst dieses:
Baudelaires Langgedicht „Die Reise“ ist im gleichen Jahr entstanden wie das berühmte Baudelaire-Gedicht „Der Albatros“ und ist Maxime Du Camp (1822 – 1894), dem Dichter und Schriftsteller, einem leidenschaftlichen Reisenden, einem Freund Flauberts gewidmet, mit dem der 1849/51 eine Orientreise unternommen hatte. RB hat sein Motto aus dem 7. Teil (dem direkten Anfang) des 8 längere und kürzere Teile umfassenden Großgedichts entnommen, was von Friedhelm Kemp in folgende deutsche Prosafassung gebracht worden ist: „Bitteres Wissen, das man von der Reise mitbringt! Die Welt, eintönig, eng und klein, heut, gestern, morgen, immer zeigt sie uns unser Bild: eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile!“ (Baudelaire: Sämtliche Werke / Briefe / Bd. 3 und 4, München Wien 1975, Bd. 3, S.337) Diese Passage wäre vom ganzen Gedicht her zu beleuchten, bei dem man den Eindruck hat, dass bei ihm nicht unbedingt immer von realen Reisen die Rede sein muss. In einem Brief vom 20. Februar 1859 an Asselineau hat Baudelaire seine Absicht wie folgt gekennzeichnet: „Ich habe ein langes, Maxime du Camp gewidmetes Gedicht geschrieben, das danach angetan ist, die Natur erschaudern zu lassen, und vor allem die Sänger des Fortschritts.“ – zu denen Maxime du Camp selbst gehörte. (ebd., S.424)
Allgemein zur Rolle des Mottos in RBs Werken:
Es gibt immer mindestens zwei Blickrichtungen dabei:
a) der Kontext und der Bedeutungshof der Fundstelle im Originalwerk (hier Baudelaires); b) der veränderte Bedeutungshof und Stellenwert durch die neue Platzierung im Einstieg zu einem fremden Werk eines anderen Schriftstellers (hier RBs)und c) das mögliche Ineinander von beidem. Grundsätzlich scheint mir zu gelten, dass das Motto als Exzerpt in einen neuen künstlerisch montierten Organismus (hier „2666“)eingepflanzt wird und so ein weiteres Spielfeld zusätzlich zum ursprünglichen Werk (hier: „Les fleurs du Mal“) eröffnet. Da z. B. die Wüste Sonora in „2666“ eine bedeutsame Rolle spielt, klingt das Baudelairesche „désert“ schon deswegen hier ein wenig anders als im Original. Neue Bedeutungen entstehen, alte verschieben sich oder durchdringen sich wechselseitig. Ebenso klingt für mich auch schon der „Simurgh der Wüste“ an, der viel später im Roman erst vorkommt, aber z. B. Verbindungen zu Jorge Luis Borges herstellt, nicht nur zu der Stelle, auf die ich im ersten Durchgang bereits verwiesen hatte, sondern vor allem auf den siebten der „Neun Dantesken Essays“ von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Der Simurgh und der Adler“. Das empfehle ich, genau zu lesen. Auch ein anderer Kreis mag sich im Übrigen dadurch schließen, der zu Arcimboldo, den malerischen Montierer aus der Renaissance, und dem ebenfalls motierenden und von RB montierten fiktiven zeitgenössischen Schriftsteller Benno von Archimboldi. Schon der Einstieg des 7. dantesken Essays zeigt dies: „Ein aus anderen Wesen zusammengesetztes Wesen: Was kann diese Vorstellung literarisch leisten – sagen wir, die von einem Vogel, der aus Vögeln besteht?“
Schließlich heißt es: „Ein Jahrhundert bevor Dante das Emblem des Adlers entwarf, entwarf der Perser Farid ad-din Attar, Angehöriger der Sekte der Sufis, den seltsamen Simurgh (Dreißig-Vögel), der den Adler buchstäblich verbessert und einschließt.“ (…) „Endllich schauen sie ihn: Sie begreifen, daß sie der Simurgh sind und daß der Simurgh jeder einzelne von ihnen und alle ist. Im Simurgh sind die dreißig Vögel, und in jedem Vogel ist der Simurgh.“ (Vgl. Jorge Luis Borges: „Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays“, F. a. M. 2003, S. 237 – S. 242)
So, ich hab es nach meinem Umzug nun endlich geschafft, ein wenig aufzuholen und werde möglichst bald mit euch gleichziehen.
Ich gehöre zu denjenigen, die das Buch zum ersten Mal lesen und muss sagen, dass mir der Einstieg bisher nicht schwer viel. Vielleicht bin ich aber auch durch die Lektüren der letzten Monate ein wenig abgehärtet.
Der Zusammenschluss der vier Kritiker und die parallel dazu verlaufenden Veröffentlichungen Archimboldis finde ich wirklich spannend. Allein schon bei der Beschreibung der vier auf ihrem Weg durch Bremen und der Vergleich mit den Bremer Statdmusikanten fand ich wirklich köstlich.
Mir als Germanistin sind diese Kritiker absolut sympathisch, so unterschiedlich sie manchmal besonders Lis) auch sein mögen. Umso beeindruckender stelle ich mir natürlich auch den Besuch bei der Verlegergattin vor, in deren Zimmer die ganze Wand voll ist mit weltbekannten Schriftstellern. Doch eigentlich sind die Kritiker nur auf der Suche nach einem Bild Archimboldis.
Ich meine viele Interessante Parallelen wiederzuerkennen, werde diese allerdings zusammenfassen, wenn ich diesen Abschnitt komplett für mich abgeschlossen habe und noch einmal Revue passieren ließ. Dies wird entweder heute abend oder morgen abend der Fall sein. Danach geht es schnell weiter mit dem zweiten Part.
Und entschuldigt bitte, dass ich so hinterher hinke. Ist ganz schnell aufgeholt.