Die Schuld des Schweigens

Erzählen verdichtet, es verdichtet nicht nur die Zeit. In „Amuleto“ die wenigen oder vielen Tage auf einer Toilette in Mexikos Hauptstadt, im „Chilenischen Nachtstück“ eine Todesnacht. Das Wort „Dichten“ bekommt seine doppelte Bedeutung, auch wenn dieser deutsche Begriff etymologisch mhd. „tithen“,  lateinisch „dictare“ eher allgemein das Verfassen von Schrifttum meint.  Ein Autor verdichtet seine Erinnerungen sowohl thematisch als auch in einer subjektiven Form.

Bolaño verdichtet also das erfundene, fremde Gedächtnis seiner Protagonisten Auxilio Lacouture und Sebastián Urrutia Lacroix (man beachte die Vorliebe für französische Nachnamen)  zu einer künstlichen Erinnerung und schafft damit das, was dem von Andreas Gierth zitierten Satz  J. L. Borges „Niemandem ist es gegeben in einem einzigen Moment die Fülle seiner Vergangenheit zu erfassen“ zu widersprechen scheint. Die „Fülle der Vergangenheit“ eines Autors ist sein ureigenes Potential. Es muss nur noch gelingen, es in Kunst zu verwandeln. Aber Erinnerungen haben wir alle und der authentische Abschiedsbrief eines Selbstmörders kann mich genauso berühren wie Literatur. Das fremde Gedächtnis in Borges Erzählung „Shakespeares Gedächtnis“(1)   wird wohl die Gefahr meinen, sich an dem Werk eines Autors wie ein Bücherwurm so satt zu fressen, dass das eigene Schreiben oder Leben darunter litte, vielleicht zum Plagiat würde. Aber alle modernen und postmodernen Schriftsteller sind Plagiatoren, sie stehen auf dem hohen Berg der vor ihnen verfassten Literatur und was sie davon gelesen haben. Heute und eigentlich schon seit langer Zeit ist dieser Berg unendlich. Auch Bolaño war mehr als durchdrungen von dem, was er gelesen hatte. Die immer wieder erwähnten Werke und Namen realer Schriftsteller beweisen  nicht nur seine Belesenheit, sondern auch das Verarbeiten dieser im Kontext seines eigenen Schreibens. In diesem Sinne wären Bolaños Texte künstlich, gleichzeitig sind sie aber auch reportageartig und realistisch dokumentarisch (vgl. den „Teil von den Verbrechen“ in „2666“). Im Verbinden dieser unterschiedlichen Elemente Künstlichkeit, Realismus und surrealistische Poesie findet Bolaño seinen eigenen Stil, der fasziniert. Ich selbst wünsche mir das sogenannte Erzähler-Ich manchmal zum Teufel, so dass es keinen Unterschied mehr zwischen Autoren- und Protagonisten-Ich gäbe, aber das bringt wohl die Erzählstruktur zwangsläufig bei fiktiven Texten mit sich und die Dinge sprechen schließlich nicht von allein. Bolaños Stil aber scheint mir ein Schritt auf dem Weg zu diesem integrativen Erzählen zu sein, in dem der Autor „seine Perücke abnehmen“ (vgl.  Motto in „Chilenisches Nachtstück“) könnte. Aber das bleibt ein Experiment, vermutlich mit dem gleichen Schicksal wie das Fragment gebliebene „L´enfer“ von Henri-Georges Clouzot. Bolaño leiht seinen fiktiven Erzählern und den Dingen natürlich auch seine eigene Stimme und lässt auch seine eigene Erinnerung in seinen fiktiven Figuren Gestalt annehmen. Die kunstvolle Vermischung des Fiktiven und des Realen, sowie eine Art autobiographischer Subtext aller realen und fiktiven Personen, machen seinen unverwechselbaren Erzählstil aus.

Sebastián  Urrutia Lacroix singt sein letztes Nachtlied über Chile. Obwohl er katholischer Priester ist, gerät es ihm nicht zur Beichte, sondern zur Rechtfertigung. Er versucht sein Schweigen, sich selbst und damit in seiner Doppelrolle als Priester und Literaturkritiker stellvertretend auch die Kirche, die Kunst, die Kultur und das gesamte Verhalten der chilenischen Intellektuellen, der Bevölkerung überhaupt während der Diktatur Pinochets zu rechtfertigen. Sein nächtlicher Redefluss ist also als eine Parabel über das Versagen der Kirche und der Intellektuellen zu verstehen, dass er aber bis zum bitteren Ende sich nicht eingestehen will.  Am Einzelnen wird hier das Versagen eines ganzen Volkes und seiner Institutionen deutlich, wobei ich diesen Text nicht nur als Demaskierung des chilenischen Charakters betrachte, sondern auch Parallelen zu Deutschland und anderen Ländern sehe. Die Verdrängung der nationalsozialistischen Schuld in den fünfziger Jahren zeigt auch bei uns die Schwierigkeit, sich die Mitschuld an einer Diktatur einzugestehen. Das Schweigen der Massen ist das Resultat der Weigerung des Einzelnen, nicht in den Spiegel sehen zu wollen. Wir alle tragen lieber Perücken und Masken. Bolaño versucht also eine Demaskierung dieser psychologischen Mechanismen, weil er die Verdrängung für eine Ursache gesellschaftlicher Missstände hält. Etwas Ähnliches versucht auch Michael Haneke mit seinem Film „Das weiße Band“. Es ist wie bei Bolaño eine Suche nach dem Ursprung der gesellschaftlichen Katastrophe im Kontext des Individuellen, der Psychologie des Einzelnen. Dort erinnert sich ein Dorfschullehrer und auch er hat die Tendenz, seine eigene Person zu verklären, bestimmte Dinge im Unklaren zu lassen. Auch dort sind die gesellschaftlichen Lügen aller Keimzelle für die folgende  faschistische Diktatur.

Auf viele literarische Parallelen der Grundsituation im „Chilenischen Nachtstück“ wurde schon hingewiesen: Hermann Broch „Der Tod des Vergil“, Albert Camus „Der Fall“ (Wolfram Schütte).

Ich will eine weitere hinzufügen:  J. L. Borges Erzählung „25. August 1983“. Das Motiv des Doppelgängers  Ibacache/Lacroix als auch das Gespräch mit einem jüngeren alter Ego findet sich auch dort. In einem Hotelzimmer trifft ein junger Borges sich selbst auf dem Sterbebett, wo sich der ältere vergiftet hat. Sie führen ein Zwiegespräch, der Sterbende  entlässt den  Jüngeren, ausdrücklich Jorge Luis Borges genannten Ich-Erzähler mit den Worten: „Mein Los wird das deine sein; du wirst eine jähe Offenbarung mitten im Latein und im Vergil erfahren, und sogleich wirst du dies sonderbare Zwiegespräch ganz vergessen haben, das sich in zwei Zeiten und an zwei Orten abspielt. Wenn du es wieder träumst, wirst du der sein, der ich bin, und du wirst mein Traum sein.“(2)   Dieses traumhafte Verweben der Personen, der Gedächtnisse , der lückenhaften Erinnerung mit den geschichtlichen, politischen Ereignissen, auch mit dem eigenen „stream of conciousness“ des Autors selbst macht mir diesen nicht leicht zu lesenden Roman einzigartig.

Eine Referenz ähnlich der von Umberto Eco  mit dem blinden, fanatischen  Bibliothekar in „Der Name der Rose“ Jorge von Burgos meinte ich auch in dem Padre von Burgos Antonio zu entdecken. Er ist der Ankläger in einem Traum Lacroix’, der bildlich auf seinen schweigenden Verrat (den Judasbaum) zeigt. Bolaño hatte ein mehr als ambivalentes Verhältnis zu seinem Vaterland. Der „Orkan aus Scheiße“ im letzten Satz des Romans meint nicht nur den Tod, sondern auch das verfehlte Leben vieler Chilenen unter Pinochet. Dadurch wird der Tod als Kloake empfunden, in die man fällt und man erwartet nicht, in den Himmel zu fallen. Die Schuld des Schweigens, der Kollaboration wird man so schnell nicht wieder los. In der Binnenerzählung der Begegnung von Salvador Reyes mit Ernst Jünger steckt der gleiche Vorwurf auf die deutsche Geschichte bezogen. Der Charakter Lacroixs steht nicht für ein Einzelschicksal, sondern für das Stigma aller Deutschen und aller Chilenen. Wir alle sitzen im Glashaus der faschistischen Geschichte und schauen nur selten in den Spiegel. An dieser Stelle sei eine Lanze für Lacroix gebrochen. Ist es nicht zu leicht, den Lügner Lacroix zu entlarven, seine Erinnerungen gegen ihn zu verwenden? Ich bin nicht dabei, diesen Rassisten (s. S. 135 die Bemerkung „Das Kindermädchen, eine reinrassige Indianerin…“) mit pädophilen Anwandlungen, diesen indiskutablen, rechtspopulistischen Möchtegernpoeten des Opus Dei in Schutz zu nehmen, aber spürt man nicht doch den ganzen Text hindurch seine Verunsicherung und die lauernde Erkenntnis, sein Leben sei eine Selbstlüge, ein Selbstbetrug gewesen? Was er nicht schafft ist der Blick in den Spiegel, der ihm das Gesicht eines sich hinter der Kunst und einer Pseudoreligiosität Versteckenden zeigen würde. Aber sind wir selbst so schonungslos ehrlich und ertragen unseren morgendlichen Spiegelblick ohne Zweifel? In der Regel wollen wir die Wahrheit über uns selbst nicht so genau wissen, wir haben unsere Schutzschilde. Niemand stellt seine körperlichen aber auch geistigen Defizite nackt auf der Straße aus. Der selbstverleugnende Blick Lacroixs gegenüber dem Blick des guatemaltekischen Malers, der seine Erinnerungen in einem künstlerischen Prozess die Wahrheit suchen lässt, sind die beiden antagonistischen Seiten der Münze Mensch. Bolaño benutzt gerade den negativen Erinnerungsprozess Lacroixs, um die Defizite einer sich selbst belügenden schöngeistigen Gesellschaft zu karikieren. Die Lacroix verfolgenden Blicke der anderen, des Kindes, des betrunkenen Farewells, sind Hinweise auf eine Hoffnung, die vielleicht auf der Rückseite der Spiegel bleibt. Idealistisch utopischer gedacht könnte das Chesterton-Motto auch als Aufruf verstanden werden, eine Gesellschaft zu schaffen, die es ablehnt, Perücken zu tragen.  Durch das Lügengewebe Lacroix’ hindurch erzählt uns Bolaño als gestaltete Erinnerung eines fremden Gedächtnisses eine unangenehme menschliche Wahrheit: schuldig zu werden an der Geschichte aus Angst. Um das Shakespeare’sche Universum zu umschreiben, sind wir nicht Kreaturen des Dunkels, Bestien des Bösen und beides lauert hinter der Fassade um alles zu werden, Spekulant, Faschist, Mörder, Lügner, Sexualverbrecher, Dieb? Nicht Glaube, Liebe, Hoffnung hält uns davon ab, all dies zu werden, Angst und Anpassung, der Zufall, vielleicht der „vergreiste Grünschnabel“ als Gewissen, eine Instanz, die selbst auf dünnen Beinen zu stehen scheint, mag uns davon abhalten, unsere Masken und Mäntel zu lüften. Gut, dass Bolaño nie einfach zu lesen ist. Mit einem Zitat aus der noch nicht auf Deutsch erschienenen Gedichtsammlung  „The Romantic Dogs“ möchte ich enden:

„Was sind wir? war deine Frage eine Woche oder ein Jahr später,
Ameisen, Bienen, falsche Nummern in der großen verdorbenen Suppe des Zufalls?
Wir sind menschliche Wesen, mein Sohn, beinahe Vögel, öffentliche Helden und  Geheimnisse.“

(1) Jorge Luis Borges: „Shakespeares Gedächtnis“, in: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970 bis 1983. Frankfurt am Main 2000 (Fischer Tb. 10589).

(2) J. L. Borges: „25. August 1983 und andere Erzählungen.“ Büchergilde 2007 (Die Bibliothek von Babel. Bd. 5) S. 33-40


4 Responses to “Die Schuld des Schweigens”

  1. Günter Landsberger

    À propos nicht stattfindender ehrlicher „Blick in den Spiegel“. – Kleine Ergänzung: Das später in „2666“ so vielfältige Spiegelmotiv bietet hier im „Chilenischen Nachtstück“ eine ganz besondere Variante. Vgl. hierzu S.112: „Einen Tee, ausgezeichnet, sagte Pérez Larouche, ging aus dem Zimmer und ließ mich allein. Ich blieb stehen. Ich war ganz sicher, daß ich gefilmt wurde. Zwei Spiegel mit gewaltigen vergoldeten Rahmen boten dazu die ideale Gelegenheit.“

  2. Günter Landsberger

    Um vielleicht noch eine Kleinigkeit hinzuzufügen: Das „Nachtstück“ zielt auch ab auf den Hintergrund, vor dem Literatur entsteht und auf die Art und Weise, wie sie entsteht.
    „So entsteht die Literatur in Chile, aber nicht nur in Chile, auch in Argentinien, in Mexiko, Guatemala, in Uruguay und in Spanien, in Frankreich, in Deutschland, im grünen England, im fröhlichen Italien. So entsteht die Literatur. Oder was wir, um nicht auf dem Müllhaufen zu landen, Literatur nennen.“ (S.153f.)
    Ist die Literatur nur dazu da, dass wir uns als Menschen sagen können, wir hätten es vielleicht doch nicht verdient, auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen?

    Für mein Gefühl wird hier ein früherer Motivstrang des Buches wieder aufgegriffen. In der Schuhfabrikanten-Erzählung hieß es: „Harte Zeiten kamen, wirre Zeiten, vor allem aber schreckliche Zeiten, in denen das Schlechte mit der Konfusion und dem Schrecken ununterscheidbar verschmolz. Die Schriftsteller riefen weiterhin nach ihrer Muse. Der Kaiser starb. Ein Krieg brach aus, und auch das Kaiserrreich sank dahin. Die Musiker fuhren fort zu komponieren, das Publikum strömte unverdrossen in die Konzerte.“ (S.62f)
    Hier stellt sich das Problem einer doppelten Geschichte, ein Problem, das mir früher schon einmal bei Arthur Schopenhauer begegnet ist und – bei fehlender überzeugender Lösung auch dort – mich nach wie vor zum Weiterdenken einlädt. Im 2. Bd. der „Parerga und Paralipomena“ Schopenhauers hieß es: „Es gibt zwei Geschichten: die politische und die der Literatur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend , ja schrecklich: Angst, Not, Betrug und entsetzliches Morden, in Masse. Die andere hingegen ist überall erfreulich und heiter, wie der isolierte Intellekt, selbst wo sie Irrwege schildert.“ (a.a.O., § 296 a)
    Und vorher schon: „Dieses rein (!, GFL) intellektuelle Leben der Menschheit besteht in ihrer fortschreitenden Erkenntnis mittelst der Wissenschaften, und in der Vervollkommnung der Künste, welche beide, Menschenalter und Jahrhunderte hindurch, sich langsam fortsetzen, und zu denen ihren Beitrag liefernd, die einzelnen Geschlechter vorübereilen. Dieses intellektuelle Leben schwebt, wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gärung entwickelnder wohlriechender Duft, über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker, und neben der Weltgeschichte geht schuldlos und nicht blutbefleckt die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften und der Künste.“ (A. Schopenhauer: Sämtliche Werke, 6. Bd. 1. Aufl., Leipzig 1939, S.79)
    Richtet sich die Novelle „Chilenisches Nachtstück“ nun insgesamt gegen das Illusionäre im Denken dieser doppelten Geschichte? Oder gibt es da ein nicht zu unterschlagendes Wahrheitsmoment?

  3. Der buecherblogger

    Ohne den großen philosophischen Background zu haben, denke ich, es gibt nur eine Geschichte, die Doppelung ist selbst das Illusionäre, die übliche Dialektik des Denkens. Die wie auch immer zu findende Wahrheit sollte nicht als ein statisch Absolutes gedacht werden. Eher passt mir da das Bild des Weges oder des Prozesses innerhalb einer Vernetzung. Das Gehirn ist vernetzt, das Leben ist vernetzt, das Internet soll ja ein Netz sein, warum nicht auch der spiralförmige Weg zur Wahrheit.

  4. Günter Landsberger

    Auch für mich ist „Wahrheit“ nichts Statisches, keine einstreichbare Münze. –
    Die Distanzierungsmöglichkeiten des menschlichen Bewusstseins, gerade auch in Bekundungen seiner künstlerischen Gestaltungen und wissenschaftlichen Objektivierungen, nehme ich ernster, trotz aller auch von mir natürlich nicht geleugneten Verflechtung, ja gar Verstrickung in gesellschaftlich-geschichtliche Zusammenhänge.

    Was ist der jeweils umfassendste Zusammenhang?
    Dürfen wir uns heute bei der Antwort „Netz“ beruhigen, so wie viele sich vor 40 Jahren bei dem Wort „Prozess-Progress“ (oder ähnlichem) beruhigt haben?

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