Domínguez: Das Papierhaus
„Ein Buch, das du nicht findest, gibt es nicht.“
Zum Inhalt: Die Literaturdozentin Bluma Lennon wird 1998 an einer Straßenecke in Soho von einem Auto überfahren, in einer eben erworbenen alten Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson lesend. So fängt das Buch an, es geht auch erstmal so skurril weiter, es werden weitere Fälle genannt, in denen Bücher zum Tod von Menschen und Tieren führen („…ich habe mal einen chilenischen Hund gekannt, der sich an den Brüdern Karamasow den Magen verdarb und gestorben ist, nachdem er es an einem wütenden Nachmittag komplett verschlungen hat.“). So ist auch die erste wichtige Erkenntnis des Buches schon auf der ersten Seite zu lesen:
„Bücher verändern das Schicksal der Menschen.“
Und die deutsche Großmutter des Erzählers ermahnt ihn: „…weißt du denn nicht, wie gefährlich Bücher sind?“
Als Vertreter der Verunglückten erhält der Ich-Erzähler eines Tages ein Buch aus Uruguay, von einem unbekannten Absender. Es ist ein altes, zerlesenes, mit Mörtelresten versetztes Exemplar von Die Schattenlinie von Joseph Conrad, versehen mit einer Widmung von Bluma:
„Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey: Ein Roman, der mich von Flughafen zu Flughafen begleitet hat. Es tut mir leid, aber in meiner Seele wohnt eine Hexe und ich habe es sofort gewußt: Egal was Du tust, Du wirst mich nie überraschen können. 8. Juni 1996.“
Der Erzähler fängt an sich mit dem Buch zu beschäftigen und findet heraus, dass es 1946 in Buenos Aires von Borges und Bioy Casares (!) herausgegeben wurde, dass Bluma auf einem Kongress in Monterrey (Mexico, Nuevo Léon) einen gewissen Carlos Brauer aus Uruguay kennenlernte. Auch erfährt er, dass Brauer zuletzt in Rocha (Atlantikküste in Uruguay) gesehen wurde. Er begibt sich auf die Suche nach Carlos Brauer, um ihm das Buch zurückzugeben und ihn „von Blumas unglücklichem Ende zu unterrichten. Obwohl ich nicht leugnen will, daß ich auch durch eine gewisse Neugier auf sein Geheimnis getrieben wurde.“.Über Buenos Aires reist der Erzähler, wo er seine Mutter besucht und die Stadt und ihre Porteños nach 15 Jahren kaum wiedererkennt, nach Montevideo, auf den Spuren von Brauer. Er findet den Buchhändler Jorge Dinarli, der mit Brauer beruflich zu tun hatte und erfährt von jenem, dass Brauer ein passionierter Sammler von Büchern war, wird aber an einen intimeren Kenner von Brauer, Augustín Delgado, verwiesen. Die Ansicht des Buches mit den Mörtelresten veranlasst Dinarli zu geheimnisvollen Äußerungen.
Bei Delgado, der eine immense Bibliothek mit ungefähr 18.000 Bänden sein eigen nennt, erfährt er viele Details aus Brauers Leben. Brauer wird als exzessiver Sammler dargestellt, „…ein aussichtsloser Fall…“, der seine gesamte Wohnung zu seiner Bibliothek macht, auch das Bad und die Garage mit Büchern vollgestopft hat. „Er hatte ihr sein Leben gewidmet. Sie war sein Werk.“ Das Anlegen einer Kartei, mit noch nie da gewesenem Ordnungssystem, wird für Brauer zu einem fast aussichtslosen Kampf. Als dann eben diese Kartei bei einem Feuer zerstört wird, zieht er mit seinen Büchern nach La Paloma, in der Lagune von Rocha, in eine Strandhütte ohne Strom und fließendes Wasser, wo er sich später eine Hütte aus seinen Büchern baut.
Der Erzähler besucht das „Papierhaus“, „In der Nähe der Türen und Fenster fand ich halbverschüttet vom Sand Hidobro, Neruda und Bartolomé de las Casas; Lawrence mit Marosa di Giorgio zu festen Ziegel verbunden, einen Rest Eliot, einen Lorca, unter einer Schneckenkruste Burckhardts Renaissance und einen vom Teer unkenntlichen Palliére.“ Brauer jedoch bleibt verschwunden, so dass er „Die Schattenlinie“ wieder nach England mitnimmt und dort den Grund der Reise des Buches erfährt.
Was sagt mir das Buch?
Es ist ein Buch, in dem ein Buch vordergründig, und alle Bücher, ja das Sammeln, Horten aller Bücher im Mittelpunkt stehen. Joseph Conrads „Die Schattenline“ bringt den Ich-Erzähler dazu eine Reise in die Welt von Büchersammlern, von obsessiven Buchliebhabern (bis hin zur körperliche Liebe mit Büchern, Brauer soll sich auf seinem Bett die Bücher so zurechtgelegt haben, dass sie die Umrisse eines Menschen oder eines Paares ergaben) zu machen, dabei wird dem Leser viel über das Sammeln, den Umgang und die Pflege von Büchern, von riesigen Privatbibliotheken verraten.
Der Versuch eines Ordnungssystems für seine Bibliothek verrät viele Detailkenntnisse des Autors über die Beziehungen der Schriftsteller zueinander und ihren Inspirationsquellen, wie wir sie auch aus dem „Chilenischen Nachtstück“ kennen, welche Werke der Autoren sich untereinander vertragen und welche nicht. „So wagte er (Brauer H.F.) beispielsweise nicht, ein Buch von Borges neben eins von García Lorca zu stellen, den der Argentinier einmal als >Berufs-Andalusier< beschimpft hatte. Auch nicht, ein Werk von Shakespeare neben eins von Marlow, wegen der Plagiats-Vorwürfe beider Autoren…“
Parallelen zu Bolaño habe ich auch im Anlegen von Listen erkannt, es werden in dem Buch jede Menge Listen, nicht offensichtlich, aber im Verlauf, aufgeführt. So werden viele Autoren, Schriftsteller, Dichter, Zeitschriften, Methoden zur Erhaltung und Klassifikationen von Bibliotheken und zu Beginn, die schon erwähnten Todesfälle im Umgang mit Büchern, aufgezeigt und zum Teil bis ins Detail erklärt. Die tragische Figur Brauer kann ich mir gut in einem Roman Bolaños vorstellen, oder in einer der Erzählungen. Wie dort wird auch hier das Scheitern einer Person, die sich zu sehr auf eine Sache einlässt dargestellt.
Die Schattenlinie aus Conrads Roman (den ich leider noch nicht kenne) gilt meiner Meinung nach als Symbol für den schmalen Grat, auf den man sich begibt, wenn man sein gesamtes Leben nur einer Sache widmet, nach sonnigen, guten Zeiten (hier die Ansammlung der riesigen Buchbestände), folgen dann die schattigen, zerstörerischen Zeiten (das Scheitern an der Klassifizierung der immensen Buchmassen).Bei Conrad soll die Schattenlinie die Linie sein, die den Übergang, die Reifung von Jugend zum Erwachsensein darstellt, hier sehe ich sie eher umgekehrt, der Erwachsene Brauer wird durch seine Abhängigkeit von seinen Büchern zum Kind, er baut sich nicht ein Kartenhaus, sonder gleich ein Bücherhaus Er will mit und in seinen Büchern leben. Weil er aber die Ordnung, die Systematik, verliert gerät seine gesamte, so mühsam aufgebaute (Bücher)Welt aus den Fugen. Bei der Suche nach dem geschenkten Buch „Die Schattenlinie“, das er Bluma zurückgeben soll, wird seine Welt, sein Haus, sein Verstand zerstört.
Interessant ist die Gegenüberstellung von Buchliebhabern bei Delgado: er erzählt von Lesern, die alle Bücher mit ihren Notizen vollkritzeln, im Gegensatz zu solchen, die ihre Bücher am liebsten unangetastet haben, davon, dass man Bücher von Autoren, die vor Erfindung der elektrischen Beleuchtung lebten, möglichst bei Kerzenschein lesen sollte (was allerdings, wie hier im Buch, tragische Folgen haben kann), weil sie nur dann ins rechte Licht gerückt sind. Dass wenn man ein Buch liest 20 andere um sich haben kann, um auch ja jeden Satz der Lektüre zu verstehen und zu entschlüsseln erfahre ich hier ebenso, wie viel über den Rhythmus eines Buches, dem Satzspiegel, der sich schon beim bloßen Anblick einer Buchseite erschließt und von dem es abhängt ob ein Buch gut ist oder nicht.
Die oben schon zitierte Widmung Blumas in „Die Schattenline“ erfährt ihre Widerlegung in einer Szene, in der Delgado dem Erzähler schildert, wie Brauer ihm die englische Dozentin Bluma beschreibt. Um die Pointe des Buches nicht zu verraten will ich hier nicht näher darauf eingehen. (siehe Seiten 59 bis 61) Wahrscheinlich hat Bluma zwei Jahre nach der Begegnung mit Brauer dieses erkannt und möchte das Buch zurück.
Dieses Buch ist gut!
Nach dieser Lektüre werde ich alle folgenden mit anderen Augen sehen, werde mehr auf das äußere Erscheinungsbild, das Schriftbild achten.
Es ist ein schmales Bändchen, dass jeder Buchliebhaber und Leser gelesen haben sollte, um zu erkennen (was jeder hier wahrscheinlich eh schon weiß), dass Lesen und der Umgang mit Büchern ebenso so schön, wie zerstörerisch sein kann. Nebenbei ist es aber auch ein guter Führer durch die Literatur, speziell die Lateinamerikanische, denn es werden alle Wichtigen genannt, sogar Bücher welcher Autoren man nebeneinander ins Regal stellen kann und darf und welche nicht und welche Bücher der Autoren sich zum Bau eines stabilen „Papierhauses“ eignen.
Es gibt dazu noch eine ganze Menge mehr in diesem Buch zu entdecken, was sich erst nach wiederholtem Lesen offenbart.
Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires geboren. Seit Ende der 1980er Jahre lebt er in Montevideo und ist dort weiterhin als Schriftsteller und Journalist tätig, die meisten seiner Veröffentlichungen sind in Uruguay erschienen. Sein im deutschsprachigen Raum bekanntestes Werk ist die Erzählung Das Papierhaus (2004), die unter anderem von der Jury der jungen Leser mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde. 2006 erschien sein Erzählband Wüste Meere. Im August 2010 erscheint Die blinde Küste.
Herbert Fraunhoffer wurde im wilden Jahr 1968 geboren, ist Vater einer viel lesenden Familie und wohnt in einer kleinen Stadt am Rhein, nahe Köln. Er arbeitet im Schichtdienst in einer Chemiefabrik. Zu Bolaño ist er eher durch Zufall gekommen, 2666 hat ihn optisch und durch die Inhaltsangabe in seiner Stadtbücherei angezogen, über die Lektüre fand er dann zu unserem “zwei666″-Projekt und ist seither treuer Anhänger. Neben 2666 las er auch Die wilden Detektive, Amuleto; an den Telefongesprächen und jetzt auch am Chilenischen Nachtstück ist er noch dran, immer geleitet durch die die Wilden Leser, zu denen er nun selbst gehört. “Durch die Bolañisten hier habe ich mein Interesse an der lateinamerikanischen und spanischen Literatur entdeckt”, beschreibt er seine Entscheidung, uns Bolañisten beizutreten.
One Response to “Domínguez: Das Papierhaus”
Ab und zu kann es sogar eine Lust sein, die Bücher seiner Bibliothek etwas anders zu stellen und so ab und an neue Nachbarschaften, neue Konstellationen und neue Konfrontationen zu erzeugen.