Es gibt Auffälliges im 4. Kapitel
Lumpenroman III, Kapitel 4
Es gibt Auffälliges im 4. Kapitel: Bianca fragt sich, was die beiden Freunde ihres Bruders an ihr gesehen hätten, als sie noch zu Besuch bei ihnen waren. „Was hatten sie gesehen? Fragte ich mich. Was für ein Gesicht, was für Augen hatten sie gesehen? (…) Jetzt weiß ich, dass es keine Nähe gibt. Irgendwer hat immer die Augen zu. (…) Es gab bloß die Illusion von Nähe.“ (S. 32) Und: „Ich war blind, aber für alle die Richtschnur, an der sich ihre Freiheit bemaß.“ (S. 33) Hat Bianca die Augen zu und gibt es also für sie keine Nähe? Gibt es nicht. Sie weiß nicht einmal, ob der Freund ihres Bruders ein Kondom benutzt hat.
„Meine Haltung, dass weiß ich heute, war die von jemandem, der die Augen offen hielt, während mein Bruder und seine Freunde mit geschlossenen Augen durch wirkliche oder eingebildete Orte irrten. Die Augen offen halten hieß übrigens so viel wie sich verzehren. Ich verzehrte mich.“ (S. 34) Wie? Hat Bianca die Augen doch offen? Sie sagt, sie verzehrte sich. Sie meint damit, dass sie manchmal dachte den „Verstand (zu) verliere(n)“.
Bianca geht zur Arbeit. Und „als ich beim Friseursalon ankam, wurde mir klar, dass ich noch dieselbe war, die Straßen hatten sich leicht nach links oder rechts verschoben, nach oben oder unten, aber ich war noch dieselbe.“ (S. 36) Das ist grotesk. Das „Groteske ist die entfremdete Welt“ (W. Kayser). Und Bianca hatte das „Gefühl, auf einem fremden Planeten zu leben.“ (S. 32) Ihr verschieben sich die Perspektiven. Es geht hier, wie es scheint, nicht um das „Zerbrechen einer moralischen Weltordnung“ (W. Kayser). Dieser scheint sie ja auch recht gleichgültig gegenüberzustehen. Es geht um das Versagen der „physischen Weltorientierung“. Aber vielleicht geht es auch um beides.
Bianca sagt, sie hätte keine Sekunde geglaubt sich zu verlieben. Sie hätte „Negative von Liebesszenen“ (S. 37) gesehen. Und: „Manchmal sah ich ein ganzes Leben als Negativ“. Wie tot sieht sie dann dieses Leben an. Sie sieht sich im Bett ihrer Eltern, das sie „gern ächzen gehört hätte“, wohl unter ihrer Lust, das aber „stumm war wie ein Sarg.“ Schrecklich! Aber: Wider Erwarten ging das Leben unverändert weiter.“ (S. 37) Ein groteskes Leben, ihr entzieht sich der Boden unter den Füßen, irgendwie steht saie doch am Rande des Wahnsinns.
One Response to “Es gibt Auffälliges im 4. Kapitel”
S.37 „Da betrachtete ich mich im Spiegel, sah die Ringe unter meinen Augen, meine Haut so weiß, als beschiene sie der Mond, der für mich so hell leuchtete wie die Sonne.“
Ein Leben in Scheinidentität unter der Scheinidentität von Sonne und Mond?
(Und: Gab es da nicht einmal einen international recht erfolgreichen Roman des Spaniers Javier Marías mit dem Titel „Corazón tan blanco“/“Mein Herz so weiß“ ?
Wird diese vielleicht wortspielerische Anspielung nur in der deutschen Übersetzung spürbar?)