Eskatologie
Ich hatte ja schon angekündigt, noch ein wenig zum letzten Satz des Buches zu sagen, genauer zum letzen Wort: „mierda“. Dieses Wort aus dem Mund eines Priesters ist an sich schon erstaunlich; wenn man bedenkt, dass es vermutlich auch noch das letzte Wort dieses Geistlichen ist, bekommt diese Äußerung etwas Skandalöses. Wo andere sich auf dem Sterbebett in letzter Minute bekehren und in Gottes Hand begeben, schwört Urrutia mit diesem letzten Satz seinem Gott geradezu ab. Wo die christliche Eschatologie, der er eigentlich verpflichtet sein sollte, für ihn ein Ende in der Herrlichkeit vorsieht, gibt es für ihn nur einen „Sturm von Scheiße“ – die letzten Dinge haben für Urrutia eine explizit skatologische Dimension.
Interessant wird diese Verschiebung, wenn man sie mit Blick auf einige Theorien Lacans betrachtet. Im Gegensatz zu Freud, der von einem utopischen Zustand ausgeht, in dem die Triebe ungehindert Erfüllung finden können, sind für Lacan die vermeintlichen Hindernissen, die dem Ausleben der Triebe im Wege stehen, immer auch konstituierend für die Triebe selbst. Nach Lacan gibt es für einen Menschen nichts Traumatischeres als die Erfahrung, das Objekt seines Begehrens tatsächlich zu erlangen – denn die tatsächliche Erfahrung fällt immer hinter die vorgestellte, fantasierte Erfahrung zurück – aus dem begehrten Objekt wird ein „Geschenk von Scheiße“.
Im Falle von Urrutia kann man sehen, wie seine latente Homosexualität immer wieder durchscheint. Zeit seines Lebens hält er den Kontakt zum offen schwulen Farewell, auch wenn ihn dessen Ausdrucksweise gelegentlich abstößt. Nach landläufiger Meinung haben wir es bei Urrutia also mit einem verhinderten Schwulen zu tun, der sich selbst seine Neigung nie eingestanden hat, ein trauriger Fall. Aus Lacans Sicht ist freilich eine andere Lesart möglich: Urrutia hat es verstanden, die sexuelle Fantasie als Fantasie aufrecht zu erhalten – er ist nicht der Widersuchung erlegen, sie umzusetzen. Auf diese Weise hat er sein Genießen maximieren können. Das ernüchternde Gefühl des „Das ist es nicht“, das sich einstellt, wenn man die Diskrepanz zwischen der Realität und der Fantasie erlebt, ist ihm erspart geblieben.
Zurück zur Scheiße: Sie spielt natürlich ganz konkret eine Rolle für die männliche Homosexualität – beim Analverkehr kommt der aktive Partner buchstäblich mit der Scheiße des Anderen in Kontakt. In diesem Zusammenhang bekommt der Ausdruck „Sturm von Scheiße“ fast schon eine orgiastische Qualität. Die letzten Worte Urrutias können also auch gefasst werden als ein finales Genießen, dem kein „Das ist es nicht“ mehr folgen kann. Und bedenkt man, dass die Scheiße hier metonymisch für das Objekt steht, dann ist es auch keine traumatische Erfahrung, wenn sich dieses Objekt in ein „Geschenk von Scheiße“ verwandelt.
So ist dieser erstaunliche letzte Satz nichts anderes als ein Happy End.
6 Responses to “Eskatologie”
Ein „Happy End“ mit zusätzlichem Hintersinn, wenn man sich bewusst macht, dass Urrutia Lacroix den chilenischen Machthabern, Pinochet und den Seinen, geflissentlich marxistischen Nachhilfe-Unterricht gegeben hatte. Ein bisschen schwingt da nämlich für mich am Schluss des „Chilenischen Nachtstücks“ sogar das berühmte Wort von Karl Marx aus der „Deutschen Ideologie“ noch mit, dass „die alte Scheiße“ wieder von vorne beginne, die Prognose, dass wiederum „die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte“. –
Aber davon abgesehen. Vermutlich lohnt sich auch noch ein Blick in Christian Enzensbergers, einst bei dtv erschienen Großessay „Größerer Versuch über den Schmutz“.
Erst einmal habe ich ein Problem mit dem Wort „Eskatologie“, sollte das „Eschatologie“ heißen?
Der letzte Satz Lacroixs birgt ein Problem, aber weniger ein sexuelles (beim Sterben denkt man glaube ich nicht an Sex), auch weniger ein religiöses (er war ja Zeit seines Lebens ein „falscher“ Priester), auch die naheligende Korrelation Tod=Scheiße ist es meiner Meinung nach nicht, sondern ein literarisches. Nach dem einzigen Absatz des Textes lässt dieser Satz den Leser nämlich im Zweifel darüber, wer hier eigentlich spricht.
Ich behaupte Bolaño hält hier die „Innere Monolog-Haltung“ nicht mehr aus und macht sich als Autor mit diesem Satz auch selbst Luft. Der „Orkan aus Scheiße“. der „los bricht“ scheint mir im Bewußtsein des Autors stark mit dem 11. September 1973 verbunden zu sein. Nun ist dieses Ereignis in der Erzählzeit der Novelle zwar schon vorbei, aber an den Nachwirkungen leidet das chilenische Volk noch heute, so wie Deutschland an der kurzen, aber nie wieder auszulöschenden Geschichte des „Tausendjährigen Reiches“. Für Bolaño bleibt das Trauma der chilenischen Militärdiktatur und die Rolle der chilenischen Intelligenzia, sowie die zwiespältige Haltung des eigenen chilenischen Volkes der wahre Haufen Scheiße.
Eskatologie ist natürlich ein Bastard aus Eschatologie und Skatologie!
Im Deutschen heißt es natürlich üblicherweise: Eschatologie, in anderen Sprachen gibt es auch die Schreibweise: Eskatologie. Aber dies nur nebenbei. –
Für mein Gefühl schießen am Schluss wie auch an vielen anderen Stellen des gesamten „Nachtstücks“ mehrere Motive und Themen und Anspielungen zusammen; möglicherweise soll eine(s) davon dominant sein, ohne dass ich mit Zuverlässigkeit angeben könnte, welche(s).
Warum, lieber Herr Buecherblogger, sollte der Ich-Erzähler ausgerechnet am Schluss aus seiner Erzähler-Rolle fallen und dem Autor direkt und unverstellt das Wort überlassen, wo das bisher allenfalls im Titel und im Motto der Fall gewesen ist? Und selbst da, wo es am naheliegendsten ist, noch nicht einmal zwingend? Aber ganz unmöglich mag das nicht sein.
Wie früher schon einmal erwähnt, sehe ich den kraft- und fäkalausdrücklichen Schluss mit deutlichen Bezug auf Seite 53, wo es auf Farewell gemünzt heißt: „Woraufhin er in Schweigen versank, wie überwältigt von der Mühsal des Weges, und nach einer Weile sagte er: Scheiße, hab ich einen Hunger!, ein Ausdruck, den ich weder vorher noch danach jemals (von ihm, GFL) gehört habe, und dann sagte er gar nichts mehr, bis wir endlich am Tisch saßen“.
Naheliegende Untersuchung: Wo melden sich auch sonst im „Nachtstück“ dem hehren S.U.L.-Ideal abstrakter (Sprach- und Literatur-) Reinheit und gelingender Verdrängung entgegen vergleichbar garstige unflätige Worte? Wo und wann setzt sich jeweils das Nächtliche gegen das vorgeblich nur Helle, das Dionysische gegen das Apollinische durch (vgl. S.106)?
Und jenes Schlusswort von der losgebundenen „tormenta de mierda“, so wortspielerisch im Spanischen zwischen „Sturm“ (tormenta) und „Folter“ (tormento) angesiedelt (!), hat es nicht auch einen untersuchenswerten Vorklang auf Seite 72, wenn dort von einer „Zeit“ die Rede ist, die „wie ein jäh daherstürmender Wirbelwind“ „über die Marsfelder weht“? Und fühlen wir uns nicht da wieder (als Vor- oder Gegen-Bild) erinnert an unser altvertrautes Klee- + Benjamin-Bild vom „Engel der Geschichte“, vom „Angelus Novus“: „… ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat …“?
Wie sich bei RB doch immer wieder alles kunstvoll und nahezu unentwirrbar verschränkt! Ich gestehe, dass ich auch an Heines Kloaken- und Scheißgruben- und Zukunftsbild am Ende von „Deutschland, ein Wintermärchen“ denken muss (auch an das große Mist- und Miasmenloch im Roman „Ein weites Feld“ von Günter Grass) und an das Danae-Bild von Tizian (Zeus nähert sich der Danae in der Füllhorn-Form eines Gold-Regens). Auch gestehe ich, dass ich mit dem Gedanken spiele, das ganze Instrumentarium, das Canettis großes Buch „Masse und Macht“ zur Verfügung stellt, für eine ziemlich ergiebige Interpretationsvariante zu nutzen: für die vielen Bilder, die im „Nachtstück“ Massenhaftes suggerieren, ob es sich nun um Falken, Tauben, Gesichter oder Fäkalien handelt.
Auch der Verschränkung des Schatten-Motivs mit dem der Homoerotik könnte man nachgehen, ob nun von „der maßlosen Schattengestalt Farewells“ (S.51) oder von der unverkennbar herangezogenen Chamissoschen Peter Schlemihl-Thematik her: „Wir bewegen uns, als hätten wir keinen Schatten und als sei uns diese schreckliche Tatsache vollkommen egal.“ (S. 104)
Und nach dem Scheißgruben-Caput 26 bei Heinrich Heine findet sich im Schluss-Caput 27 eine Passage, die auf ihre Weise das Chesterton-Motto des „Chilenischen Nachstücks“ („Nehmen Sie die Perücke ab.“) begreifbarer macht:
„Das alte Geschlecht der Heuchelei
Verschwindet Gott sei Dank heut,
Es sinkt allmählich ins Grab, es stirbt
An seiner Lügenkrankheit.
Es wächst heran ein neues Geschlecht,
Ganz ohne Schminke und Sünden,
Mit freien Gedanken, mit freier Lust –
Dem werde ich alles verkünden.“
(Heinrich Heine Werke, Hrsg. und kommentiert von Stuart Atkins unter Mitwirkung von Oliver Boeck, Bd. II, München 1978, S. 698)
Gestern und heute hat Dennis Scheck in den Medien (Fernsehen und DLF) seinen Lieblingssatz aus dem Roman „Das grüne Haus“ von Mario Vargas Llosa zitiert. Einen Satz, der punktuell erstaunlich übereinstimmt mit dem Schlusssatz vom „Sturm aus Scheiße“ aus dem „Chilenischen Nachtstück“. Im Wortlaut wird er wohl bald im Speicher des „Büchermarkts“ nachzulesen sein.
„Das Leben ist ein Sturm aus Scheiße und die Kunst ist der einzige Regenschirm dagegen.“ Mario Vargas Llosa in „Tante Julia und die Kunst-Schreiber“
(Soweit „Das Blaue Sofa“ heute in Facebook)
sowie:
Gustave Flaubert in einem Brief an Ivan Turgenev: „Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber es brandet eine solche Flut von Scheiße gegen seine Mauern, dass er einzustürzen droht.“
(laut Michael Höfler, ebenfalls heute bei Facebook / Das Blaue Sofa)