FETZEN 410 / XI
FETZEN 410 / XI
Zur fraglichen Bedeutung des Angedeuteten, des Beiläufigen, des Knappen
Alles Nacherzählbare hier ist schnell erzählt. Alles Ablaufmäßige ist ganz schnell wiederzugeben.
Zweimal pro Woche besucht Bianca – nach ihrem ersten Mal mit ihm – Maciste. Nur mit einem einzigen Wort wird von ihr erwähnt, dass sie dann jeweils wieder miteinander „vögeln“; mehr aber und ausführlicher, dass sie miteinander reden, und zwar „über Gott und die Welt“. Dass dabei Dinge klar zur Sprache kommen, die sie zutiefst angehen, die endlich von jemand anderem ernst genommen werden, wird betont unsentimental lakonisch, verräterisch beiläufig inmitten einer Aufzählung, von ihr erwähnt: „Wir redeten über (…) den Unfall meiner Eltern und darüber wie mich der Verlust getroffen hatte (seine Eltern waren ebenfalls tot).“ (S.76) Weshalb sie überhaupt – und anfangs mit ihren drei männlichen Begleitern – bei Maciste aufgetaucht ist, wird am Ende des Kapitels zumindest indirekt deutlich: Es geht um den von den dreien bei Maciste vermuteten „Tresor“ (S.80), den sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, offenbar vereinbarungsgemäß und planmäßig, überall sucht.
WIE wichtig beiläufige Hinweise und Andeutungen im Erzähltext zu nehmen sind, bleibt (vorerst? oder durchgängig?) offen.
Oft hat man bei solchen Stellen das Gefühl von gezielt weiterreichender Bedeutung. Mit welchem Recht auch immer.
Andererseits: So zahlreich sind die bedeutungsträchtig erscheinenden Stellen im „Lumpenroman“ nun aber auch wieder nicht, daß man glauben könnte, sie hätten keinerlei Bedeutung und Gewicht. Und dennoch wird man sich dabei nie ganz sicher. Genau dies scheint mir aber zum Erzählkonzept zu gehören.
Faktisch Gesichertes, sicher Erschließbares scheint es zu geben: Mindestens 15 Jahre ist Maciste schon blind. (S.76) Einen Überblick über die Räumlichkeiten und den Zustand und die Ausstattung der Räume des Hauses erhält man. Einige wenige biographische Details von Macistes Vorleben erfahren wir.
Aber schon die Mitteilung seines „wirklichen“ Namens „Giovanni Delacroce“ (in absichtsvoller Analogie zu Juan de la Cruz?) wird über das Mitteilbare hinaus per Andeutung in grundsätzlichere Problemzusammenhänge versetzt. Wie verhalten sich die Bezeichnungen, die Namen, zu dem von ihnen und durch sie Bezeichnetem? Gibt es da eine grundsätzliche Nicht-Übereinstimmung von Bezeichnung und Bezeichnetem oder doch zumindest Grade von größerer oder geringerer Nicht-Übereinstimmung? Gibt es Namen und Bezeichnungen, die „wirklicher“ sind als andere, Namen und Bezeichnungen sonach, die die gemeinte, die vermeinte, die letzten Endes dennoch verschlossene „Wirklichkeit“ doch noch etwas besser und wirklichkeitsnäher treffen als andere? Was ist Wirklichkeit? Ist das, was wir mehr oder minder naiv Wirklichkeit nennen, am Ende „nur eine andere Unwirklichkeit“ (S.77)? Man sieht, bei ganz leicht und wie nebenbei Formuliertem landen wir, wenn wir das ganz ernst nehmen, bei Problemen der Erkenntnistheorie und des Nominalismus. Und nur ein paar Zeilen weiter gelesen, ist im Beiläufigen schon wieder ein Problem verborgen, diesmal ein ethisches oder sogar ein metaphysisches, obschon alles sich zunächst ganz oberflächlich nur auf das Ablaufmäßige von Filmverläufen zu beschränken scheint. Bianca erzählt nämlich, dass sie von Maciste im Gespräch erfahren habe, „dass er im Film mal den Guten und mal, gegen Ende, den Bösen verkörpert hatte, denn so ist das Gesetz des Lebens, sagte er, anfangs ist man fast immer der Gute und am Ende ist man immer der Böse“ (S.77). Nicht abwegig erscheint einem da die Frage: Wie steht es denn mit dem Guten und dem Bösen im „Lumpenroman“? Und wie muss man in Bezug auf ihn, diese Frage genau stellen, um sie richtig zu stellen?
Typische Bolano-Symbole mit einem Assoziationsfeld potentieller Verbrechen glaubt man außerdem noch zu finden, wenn von „zerbrochenen Spiegeln“ und „einem riesigen Sprung in der Badewanne“ (S.78) die Rede ist. Zumindest stutzen wird man auch, wenn von einem „Heiligen Pietrino von den Seychellen“ (und seinem exponiert zwischen 2 Maciste-Porträts platziertem Bilde) die Rede ist, und Maciste alias Giovanni Delacroce ausdrücklich sagt, dass es diesen neuzeitlichen Heiligen tatsächlich gegeben habe, dass es mit ihm also „kein Scherz“ sei.
Nehmen wir denn jetzt spätestens und nachträglich auch die Zimmerbeschreibung der vorausgegangenen Seite anders auf? : „Insgesamt machte das Zimmer einen klösterlichen Eindruck, von Geräumigkeit.“ (S.79)
Wird hier mit unseren Leseassoziationsmöglichkeiten und Leser… – Erwartungshaltungen gespielt?
Oder sollen wir uns ernsthaft fragen: Was wird denn letztlich aus dieser Begegnung Biancas, die sich zwar nahezu als „Kriminelle“ betrachtet, ganz vehement aber nicht als „Nutte“ sieht, mit dem blinden Maciste, der sich hier kryptisch – zumindest – in Heiligennähe erblickt? Will der „Lumpenroman“ uns an der Nase herumführen, wenn er suggeriert, er sei so etwas wie die „Legende vom heiligen Bodybuilder“? (Erzählt von einer potentiellen Dirne und Kriminellen, die von einem bestimmten Zeitpunkt an beides nicht oder nicht mehr sein wollte.)
3 Responses to “FETZEN 410 / XI”
Mein nächster Beitrag zum „Lumpenroman“ (zum 12. Kapitel) ist bereits verfasst und an Marvin gesandt. Er muss nur noch ins Netz gestellt werden. Zu den abschließenden Beiträgen komme ich heute und in dieser Woche nicht mehr. Notfalls müssten andere einspringen.
Auf eine ganz besondere Sache möchte ich aber hier schon auf alle Fälle hinweisen. Sehr früh ist mir nämlich aufgefallen, dass im 13. Kapitel als Einsprengsel oder Wasserzeichen, wenn mich nicht alles täuscht, eine Wendung des Heiligen bzw. Philosophen und Theologen Augustinus zu finden ist: INCURVATUS IN SE (= der auf sich selbst verkrümmte Mensch). Dies genau ist bei Augustinus der Ausdruck dessen, was er Peccatum, Sünde, nennt.
Ob die von Christian Hansen auf S.91 wie folgt übersetzte Stelle – „in mich gekauert, geduckt und gebrochen“ – auch im spanischen Original darauf anspielt?
Und was folgte daraus für das Verständnis des Gesamttextes innerhalb der vielen sich anbietenden und sich folienähnlich überlagernden Kontexte?
Alles Gute auf deiner Reise! Ich bin ja schon sehr neidisch und würde am liebsten direkt den Rucksack packen und hinterhertrampen! Viel Spaß in hoffentlich sonnigeren Gefilden! Vielleicht hast du ja zwischenzeitlich einen Internetzugang und kannst ein wenig von deinen Erlebnissen berichten!
Vielen Dank, lieber Marvin. – Du brauchst da doch nicht neidisch zu sein. Dafür bist Du ja noch jung und hast vieles noch vor Dir. Wäre ich nicht schon im Ruhestand, würde ich jetzt auch nicht fahren können. Früher ging soetwas fast nur in den großen Ferien. – Das Programm ist übrigens prallvoll. Ich werde wohl erst nachträglich berichten können. Aber spannend wird es.