Halbschatten

Auf dem Bild der Erinnerung herrscht Halbschatten

Zuerst einmal zur Deklaration. Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass die deutschen Verlage nur noch Romane zu kennen scheinen, selbst dann, wenn es ganz offensichtlich keine sind. „Chilenisches Nachtstück“ ist nach meinem Dafürhalten eine Novelle.

Das ist ein beliebter Topos, den Roberto Bolaño hier bemüht: ein Mensch hält Rückschau auf sein Leben. Kein Ort und kein Moment, der sich dafür besser eignen würde als das Sterbebett. Das spätestens ist der Zeitpunkt, wo man ehrlich zu werden beginnt, denn dann hat man ja nur noch wenig zu verlieren. Eigentlich verliert man alles, aber alles ist dann eben nicht mehr viel. Wir dürfen in so einer Situation einen schonungslosen Blick auf das eigene Leben erwarten; vor allem, da es sich bei Sebastían Urrutia Lacroix um einen Priester handelt. Jemand, der in Bälde vor seinen Gott tritt. Spätestens der wird ihm einige Fragen stellen. So ein Mensch ist gut beraten, seine letzten irdischen Momente zu nutzen, um sich auf diese Unterhaltung vorzubereiten. Und meistens hat man im Moment des Sterbens ja sowieso nichts Wichtigeres zu tun.

Lacroix erinnert sich an sein Leben. Das geschieht in sechs Episoden, die schätzungs-weise zwischen 80 und 90 Prozent der Textmasse ausmachen: es beginnt mit dem Wochenende auf dem Landgut Farewells, gefolgt von dem Abend bei Salvador Reyes, der von Ernst Jünger berichtet und einem guatemaltekischen Maler, dann wird die Geschichte des österreichischen Schuhfabrikanten erzählt, dann die Reise nach Europa, schließlich der Unterricht in Marxismus für die Junta Chiles und abschließend erzählt Lacroix von einer mittelmäßigen Romanschriftstellerin, deren Mann für die chilenische Militärdiktatur gefoltert und getötet hat. Zwischen diesen Episoden werden die Gespräche mit Farewell berichtet, die meist keine literarischen Themen haben – außer es handelt um das chilenische Nationalheiligtum Pablo Neruda – und Lacroix‘ Sorgen um den, wer immer das sein mag. „vergreisten Grünschnabel“.

Das Leben dieses Mannes hat zwei Zentren, die Literatur und das Priesteramt. Vielmehr müsste es sie haben. Der Glaube spielt jedoch kaum eine Rolle, ich sehe keine ausge-prägt religiöse Haltung. Lacroix liest bisweilen die Messe und er kennt die Lebensläufe der Päpste auswendig. Das ist ein ausgesprochen armseliges Verständnis von Glauben – und gar keines von Gott. Dieser Glaube lässt sich zusammenfassen mit den Worten: „Auch Beten wird halt irgendwann langweilig.“ Es war in der Vergangenheit in vielen Ländern – auch in Rumänien – oft der Fall, dass sich Gelehrte in Klöster zurückzogen, dass sie weltlichen Umständen entsagten, um sich der Wissenschaft und ihren Interes-sen und Studien zu widmen.

Aber auch dieses zweite Zentrum, die Literatur und die Literaturkritik, spielt meines Erachtens keine ernstzunehmende Rolle. Ich sehe keinerlei literarische Leidenschaft, bis auf das übliche name-dropping. Lacroix kommt lebenslang nicht über die kleine narzisstische Kränkung hinweg, dass er einen Namen nicht kannte: „Sordel, Sordello? Welcher Sordello?“. Nach dem Wochenende bei Farewell sagt er: „Meine Feuertaufe in der Welt der Literatur war bestanden“. Feuertaufe? Außer stille Anbetung von Neruda und einigen Spaziergängen war da nicht viel. Es werden auch im Weiteren keine gelehrten Gespräche berichtet, da werden keine Bücher besprochen, keine poetologischen Beobachtungen gemacht, keine Erkenntnisse gewonnen. Ich sehe auch keine Diskussio-nen, wie sie etwa in Deutschland während des Hitlerdiktatur stattgefunden hat, und wie sie in repressiven Gesellschaften angestellt werden müssen, nämlich wie man dem Re-gime Widerstand entgegensetzt: indem man geht oder indem man bleibt. Die chilenische Literatur scheint für diesen Mann keinerlei politische Dimension zu besitzen. Und als Schriftsteller redet er, gelinde gesagt, puren Blödsinn,: ich, behauptet er von sich, „ … entwarf ein dichterisches Werk für kommende Zeiten, ein Werk von geradezu kanonischem Anspruch, dazu gedacht, sich erst im Laufe der Jahre herauszukristallisieren, geschrieben in einer Metrik, die kein Mensch in Chile mehr praktizierte, was sage ich, die kein Mensch jemals praktiziert hatte …“.

Dieser Mann ist weder als Priester noch als Literat ernst zu nehmen. Er erzählt als Bi-lanz seines Lebens eine Handvoll, in ihrer Bedeutung alle miteinander eher marginale Geschichten, und dazwischen packt er ein bisschen Füllmaterial. Nicht einmal die bei-den letzten Exkurse, die etwas mit seinem eigenen Leben zu tun haben, der Unterricht für Augusto Pinochet und seine Schergen, und die Schriftstellerin, die mit einem Ge-waltverbrecher verheiratet ist, führen in irgendeiner Weise zu etwas, was man Selbster-kenntnis nennen möchte. Lacroix ist ein Mann, der sich zu keiner Zeit irgendeiner Wahrheit annähert, auch wenn er das gerne weismachen möchte: „ … dass nämlich das Leben eine Folge von Irrtümern ist, die uns zur letzten einzigen Wahrheit hinführen.“ Es findet keine Auseinandersetzung mit seinem Zölibat statt, nicht mit der Homosexualität Farewells, nicht seiner eigenen Sexualität. Als Essenz eines Lebens ist die ganze Geschichte vollkommen lachhaft, dieser Lacroix ist ein Schwätzer, ein dummer Ignorant. In politischer Hinsicht kann so Haltung mitunter sehr gefährlich sein. Und in literarischer Hinsicht kann man nicht viel mehr von ihm erwarten, als das er stöhnt: „Ach, die Unsterblichkeit der Literatur.“

Es scheint diesem Mann vor allem um seine Wahrnehmung durch den „vergreisten Grünschnabel“ zu gehen. Fragt man sich, wer das ist, könnte man vermuten, dass es keine juristische Person ist, sondern eine psychische Instanz: sein Gewissen. Weil das ein schwieriger und stark vermittelter Begriff ist, versuche ich das mit eigenen Worten zu beschreiben. Der vergreiste Grünschnabel steht für die Wahrnehmung durch die anderen. Durch die, die einen Artikel in der Zeitung schreiben, wenn man gestorben ist. Die, die sich an einen erinnern, wenn man es selbst nicht mehr kann. Und die das vielleicht nicht so tun, wie man das gerne hätte. Die Welt, eine Sekunde nach dem eigenen Tod. Diese Welt, der Blick dieser Welt, taucht nicht erst mit dem Tod auf, diesen Blick spürt man schon früher. Aber auch hier legt Lacroix keine ernstzunehmende Haltung an den Tag und so endet seine angebliche Auseinandersetzung mit sich selbst so wie man es etwas hat erwarten können: mit dem letzten Satz – und vermutlich seinem Tod – „Und dann bricht er los, der Orkan aus Scheiße.“

Das Thema dieser Novelle ist, meine ich, die Erinnerung. Und dieser Mann erinnert sich eigentlich nicht. Er versucht vielmehr den Blick der Nachkommen auf ihn zu beeinflussen. Er erinnert sich nicht, er erzählt irgendwelche belanglosen Banalitäten von Tau-benkacke in Italien oder Heldenverehrung in Österreich. Es mag tatsächlich genauso gewesen sein, wie er das hier berichtet, und es handelt sich dabei dann um eine objektive Berichterstattung. Gerade deswegen sind das keine Erinnerungen. Erinnerung hat etwas mit dem Subjekt zu tun, das sich erinnert. Dieser Lacroix dient lediglich als Zerrspiegel, deren nicht verzerrte Variante auf wenigen, sehr dichten Seiten erzählt wird. Roberto Bolaño schafft hier auf großartige Weise ein Bild, eine beeindruckende Meta-pher für die Erinnerung. Und zwar anhand des Gemäldes eines guatemaltekischen Malers: „Ansicht der Stadt Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang“, ich zitiere die Stelle in Gänze:

„ … meinte dennoch ein Stückchen Wahrheit erhascht zu haben, und dieser winzige Teil Wahrheit bestand darin, daß der Guatemalteke sich in Paris befand, dass der Krieg begonnen hatte oder gerade im Begriff stand zu beginnen, daß der Guatemalteke bereits die Gewohnheit angenommen hatte, lange Mußestunden vor dem einzigen Fenster seiner Mansarde damit zu verbringen, das Panorama von Paris zu betrachten, und daß aus dieser Betrachtung, aus der schlaflosen Betrachtung der Stadt Paris, die „Ansicht der Stadt Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang“ entstanden war, ein Bild, das auf seine Weise ein Altar für Menschenopfer war, eine Geste erhabenen Widerwillens, das Hin-nehmen einer Niederlage, nicht allerdings der von Paris oder der europäischen Kultur, die emsig damit beschäftigt war, sich selbst unter viel Lärm und Geschrei in Schutt und Asche zu legen, der Niederlage von politischen Idealen, die der Maler vage als seine eigenen erkannte, sondern der höchsteigenen, der eines ruhm- und glücklosen Guatemalteken, finster entschlossen, sich in den Zirkeln der Stadt des Lichts einen Namen zu machen, und diese Hellsichtigkeit, mit der der Guatemalteke seiner eigenen Niederlage ergeben ins Auge blickte …“

Was passiert hier? Wir haben die vage Erinnerung – an einer Stelle ist von einer Vision die Rede – eines Mannes aus Guatemala an einen kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt Mexikos, die er malt, während er sich die Stadt Paris anschaut. Die Stadt, ob Mexikocity, Paris oder möglicherweise auch Guatemala-Stadt ist einerlei; die Stadt liegt sowieso halb im Dunkeln verborgen, man erkennt nur Schemen, Stadtviertel wirken wie Meereswogen, man sieht Skelette, die von Menschen, aber auch von Tieren stammen könnten. Es werden verschiedene Städte übereinander gelegt. Der Guatemalteke löst das Darstellungsproblem, indem er keine bestimmte Stadt malt und was er malt, ist im Dämmer kaum zu erkennen. Mit der Metaphorik des Lichts wird nicht das Städtepano-rama beschrieben, sondern das Leben dieses Künstlers. Ein Mensch in der Fremde, im Exil, der offenbar über Mexiko nach Paris gekommen ist und hier „finster entschlossen“ ist, sich „in den Zirkeln der Stadt des Lichts“ einen Namen zu machen und der mit „Hellsichtigkeit“ seiner Niederlage „ins Auge blickte“.

Das ist ein Mann, der nichts anderes kann als malen. Er kann das Bild nicht einmal ver-kaufen, er bietet es Ernst Jünger, der zu Besuch gekommen ist, nicht an, er gibt auch keine Erklärungen zu dem Bild; er bedankt sich nicht einmal für die mitgebrachten Le-bensmittel: weil er es nicht kann. Er will sich einen Namen machen und auch das kann er nicht – wir erfahren seinen Namen nicht – er will Anerkennung für seine Arbeit und die bekommt er nicht. Darin hat er ein tragisches, und dennoch absolut beliebiges Künstlerschicksal. Dieser Mann ist, das wird mehrfach gesagt, dabei zu sterben. Deswegen ist es ihm auch egal, ob er verhungert oder nicht, ob Essen in der Küche steht oder nicht, ob Jünger das Bild kauft oder nicht. Das historische Ereignis, die drohende Vernichtung von Paris durch die Deutschen, dient dabei lediglich die Folie auf der das Schicksal dieses Individuums gestaltet wird und als Inkarnation einer Übermacht, von der ein Einzelner bedroht und vernichtet wird: dem eigenen Schicksal. Das ist eine Macht, der man wahrscheinlich, ab einem bestimmten Zeitpunkt, nur noch „ergeben“ ins Auge blicken kann, weil man da weiß, dass jeder Widerstand, jede Résistance zwecklos ist. Das ist ein Punkt, wo man keine Zukunft mehr hat, keine Chancen und keine Möglichkeiten, Umstände zu gestalten und sie zu den eigenen Gunsten zu verändern.

Anhand dieser Figur wird mit wenigen Sätzen ein Lebensschicksal beschrieben und herausgearbeitet, das eine ganz andere Dichte hat, als die dieses Schwätzers Lacroix und es wird diesem diametral entgegengesetzt. Schön und gut. Warum aber kann diese Stelle über den Maler als eine Metapher für die Erinnerung fungieren?

Das Bild des Guatemalteken zeigt keine real existierende Stadt, sondern eine, die durch die Phantasie bearbeitet worden ist. Das ist die Tätigkeit eines Künstlers, jedenfalls der-jenigen, an die dieser Mann Anschluss sucht, die Surrealisten, der Kreis um André Bre-ton. Ich will das auch einmal etwas surrealistisch ausdrücken: Die Stadt Paris wäre ohne die Stadt Mexiko unsichtbar. Ohne all die anderen Städte und Orte, die einer gesehen hat und die sich über die aktuelle Wahrnehmung drüberlegen und mit ihr verschmelzen. Frisch aus dem Weltraum eingeflogen, würde jeder Marsmensch, vorausgesetzt er ist halbwegs bei Sinnen, im Angesicht der Stadt Paris fragen: Was ist das?

Die Städte, die Orte an denen wir gewesen sind, wo wir etwas erlebt haben und wo wir, wenn wir uns an sie erinnern, noch einmal gegenwärtig sind. Das hat etwas Absurdes, weil dieser Ort und diese Zeit schon gar nicht mehr sind und weil der erlebende Mensch in der damaligen Situation schon gar nicht mehr ist. In der Erinnerung reagieren räumli-che und zeitliche Schichten und Strukturen miteinander. Erinnerung ist ein kreativer Prozess, der etwas erschafft, verschiedene Schichten und Ebenen, die übereinander ge-malt werden. Etwas, das durch die einzelnen Sedimente aktiv gebildet werden muss. Erinnerung ist nicht das Hervorholen von objektiven Gegebenheiten – das ist die Geschichtsschreibung – sondern das Erarbeiten, das Abarbeiten an den Umständen, das Auswirkungen auf das Subjekt und sein persönliches Erleben hatte. Die Umstände – die Städte – bringen nicht die Wahrheit hervor. Wahrheit entsteht, indem ich die Umstände produktiv nutzte. Aber eben nicht, indem ich mich ins rechte Licht setze – auf dem Bild der Erinnerung herrscht Halbschatten – sondern indem ich mir selbst und meiner Situa-tion ins Auge sehe. Auch wenn das, was ich da sehe, eine Niederlage ist.

Ich empfinde die Hauptfigur als in jeder Hinsicht armselig. Großartig hingegen ist der Guatemalteke. Und in dieser Gegenüberstellung von Haupt- und Nebenfigur finde ich doch eine einigermaßen beeindruckende, formale Waghalsigkeit dieses Autors: Wenn Bolaño das, was ich da behaupte und konstruiere, beabsichtigt haben sollte. Allerdings bin ich der Meinung, dass die Absichten eines Autors nicht wichtig sind. Wichtig sind seine Fähigkeiten. Wichtig sind seine Ergebnisse. Und die werden durch seine Absichten in keinster Weise wiedergegeben.

Ganz vorsichtig ausgedrückt: wenn das meine Novelle gewesen wäre, dann hätte ich sie sicher noch einmal überarbeitet, mindestens einmal. Eine vereinzelte gute Stelle ist mir als Leserin ein bisschen zu wenig.

Aléa Torik, 1983 in Sibiu – Hermannstadt in Rumänien – geboren, bilingual aufgewachsen, Studium der Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft in Bukarest und Berlin. Derzeit Dissertation zum Thema „Identität, Authentizität und Illusion“. Roman „Berlin am Meer“, Blog: www.aleatorik.eu

13 Responses to “Halbschatten”

  1. Andreas Gierth

    Ich habe diesem Kommentar mit, wie man so sagt, schneller Feder geschrieben. Ich bitte also etwas um Nachsicht.

    Ich glaube auch, dass das Thema von „Chilenisches Nachtstück“ die Erinnerung ist. Ich glaube ojnehin, dass dies eines DER Themen oder DAS Thema von Bolano ist. Ob Lacroix sich letztlich nicht wirklich erinnert, so wie du es hier beschreibst, wage ich noch nicht zu behaupten. Aber das eine oder andere, was du hier sehr kritisch anmerkst, kann ich gut nachvollziehen.

    Meines Erachtens gibt es ja in „Chilenisches Nchtstück“ verschiedene Geschichten zum Thema Erinnerung. Z. B. die des Schufabrikanten.

    Du schreibst, das Bild des Guatemalteken seine eine „Metapher für die Erinnerung“. Was genau du damit meinst, ist mir noch nicht ganz klar geworden. Vielleicht kannst du ja noch einmal auf diesen Punkt eingehen? Wäre nett.

    In „Spuren legen III“ vom 31. 05. habe ich das Thema schon eimal – allerdings sehr kurz gehalten – aufgegriffen. Ich schrieb damals:

    „Und dann geht es da noch um ein Ölgemälde des Guatemalteken, das Bild einer „aztekischen Kapitale“ (S. 47) in der Stadt Mexiko. Er, der Guatemalteke, habe das Bild ohne einen Gedanken an Mexiko gemalt. Er habe keine nennenswerte Zeit in der Stadt zugebracht. Beim Malen hätte er, anders könne er es nicht nennen, ein „mexikanisches Gefühl“ (S. 48) gehabt. Für Jünger war dies Anlass über die „versiegelten Brunnenschächte des Gedächtnisses zu reden“. (Auf Seite 33 war von den „endlosen Windungen eines Gedächtnisses“ – ein gleiches Bild für das Gedächtnis – die Rede, welches er, Lacroix, zwar habe, aber welches nicht ihm gehöre.) Mir geht es um das Thema Gedächtnis. Ein solches Bild – Schächte, Windungen – des Gedächtnisses taucht bei Bolano schon einmal woanders auf. Leider wie ich nicht mehr wo. Ich glaube mich zu erinnern, dass an dieser Stelle die Rede davon ist, dass es ursprünglich ein Bild von Augustinus für das Gedächtnis sei“.

    Benjamin Loy hat inzwischen auf die Stelle bei Augustinus hingewiesen: Confessiones”, X. Buch, XVII. Kapitel. Es lohnt sich auch, wie ich meine, die Kapitel davor und danach zu lesen.

    Augustinus sagt, das „Weib, das den Groschen verloren hatte (…), hätte ihn nicht gefunden, hätte sie seiner nicht gedacht.“ Und so sei es auch mit dem Erinnern. Ich muss mich des Vergessens erinnern, sonst kann ich mich nicht erinnern. Oder: Ich erinnere mich nicht mehr, wenn ich das Vergessen vergesse.

    Und jetzt frage ich mich Folgendes: Im Exil scheint der Guatemalteke doch das Vergessen zu vergessen. (Er stribt, er verliert, wie es auf Seite 44 heißt, seine Seele.) Er habe, sagt er, das Bild ohne einen Gedanken an Mexico gemalt. Anders als das von Augustinus erwähnte Weib an den Groschen, hat er (an) Mexico nicht gedacht. Trotzdem konnte er das Bild malen. Weil er noch ein „mexikanisches Gefühl“ hatte. Vielleicht ist das der Zustand kurz vor dem Vergessen des Vergessens. Lacroix stirbt auch. Aber: „Geblieben ist mir die Fähigkeit, mich zu erinnern“ (S. 10). Nur was ist das möglicherweise für eine armselige Erinnerung, wenn man dem Vergessen des Vergessens noch nicht so nah ist wie der Guatemaltke?

  2. Der Buecherblogger

    Die Bezeichnung als Novelle halte ich auch für zutreffender und assoziiere als ähnlichen „Verlagsfall“ „Una novelita lumpen“, der auch als „Lumpenroman“ übersetzt wird, aber im Original ja
    zumindest eine Verkleinerungsform von „novela“ darstellt, also „Ein kleiner Lumpenroman“ ist. Was
    „Nocturno de Chile“ auch eher zu einer Novelle macht ist der Auftritt von Dingsymbolen oder besser Symbolen, die nicht unbedingt mehr materiell sein müssen, aber die gleiche Funktion haben. Die Falken könnten ja auch an den Falken in Boccacios „Decamerone“ erinnern, aber ich will die Parallele zur Falkentheorie Paul Heyses nicht zu sehr strapazieren. Auch der „Grünschnabel“, der sicher ein projizierter jugendlicher Bolaño als versteckten Adressaten dieses Monologes einschließt und gleichzeitig Gewissen und befürchtete „Wahrnehmung der anderen“ ist, würde als durchgehendes Symbol für eine Novelle sprechen. Ihren Beitrag (Artikel) finde ich bemerkenswert gut, nur der letzten Schlußfolgerung

    „wenn das meine Novelle gewesen wäre, dann hätte ich sie sicher noch einmal überarbeitet, mindestens einmal. Eine vereinzelte gute Stelle ist mir als Leserin ein bisschen zu wenig“

    kann ich nicht folgen. Ich sehe es genau umgekehrt, der gesamte andere Teil ist die herausragende Leistung Bolaños, quasi sein erinnertes „Bild des Gualtemateken“, allerdings durch das Gedächtnis einer anderen Person (Lacroix) vermittelt.

  3. Günter Landsberger

    @ Aléa Torik
    Vielen Dank für die sehr anregende, in ihrer Entschiedenheit und Schlüssigkeit bemerkenswert gute Darstellung! –
    Nur zu einem gleich anfangs angesprochenen Punkt auch von mir etwas. Etwas Ergänzendes.
    Entschieden von „Novelle“ (novela corta)zu sprechen und nicht einfach von „Erzählung“ (cuento), und ebenso entschieden nicht von „Roman“ (novela), hat nur dann Sinn, wenn die Erfordernisse der Gattung erfüllt sind. Dies wäre nachzuliefern.
    Ich habe bezogen auf das „Chilenische Nachtstück“ bisher gerne und vordringlich von „Kurzroman“ oder „kurzem Roman“ gesprochen, was der spanischen Formulierung für „Novelle“ (novela corta) ohnehin recht nahekommt. Im Hinterkopf könnte man allerdings auch einen möglichen Zusammenhang mit dem potentiellen Novellencharakter der 6 (!) „Nachtstücke“ E.T.A. Hoffmanns haben.
    Es spricht im Übrigen viel dafür, dass außer der europäischen Novellentradition, in Maßen auch die Novellentheorie eine Rolle spielen könnte, vielleicht parodistisch, augenzwinkernd. An die berühmte Falkentheorie, lieber Herr Hillebrandt, wird man dabei wohl auch denken dürfen. Es ist ja nicht bloß vordergründig-buchstäblich das Falkenmotiv, das hier zum Zuge kommt; wenn es sich wirklich im Gattungssinn um eine „Novelle“ handeln sollte, wird man auch nach dem sogenannten Wendepunkt Ausschau halten dürfen. Es erscheint mir auffällig, dass die europäische Falkenbegutachtungsreise Urrutia Lacroixs genau nach der bisher schlimmsten persönlichen Krise desselben stattfindet und die (wie immer fragwürdige) „Wende“ in der Geschichte im Doppelsinn zu bringen scheint. Die Krise und die fragwürdigen Retter Oido und Odeim (Furcht und Abscheu, ja Hass) gehen sonach dem „wendenden“ Falken und dem erstmals offen parteiisch werdenden Ich-Erzähler U. L. entscheidend und initialzündend voraus: Urrutia Lacroix setzt den vom zuletzt reuig gewordenen Pater Antonio nur notdürftig domestizierten Falken Rodrigo zu seinem reißend mörderischen Tun, zu dem er ja abgerichtet worden war, wieder frei.
    Dieser Falke als novellistische Wende hat – anders als bei Boccaccio – nichts mit Liebe zu tun, weder mit der Liebe als Eros noch mit der als Agape. Ja, es liegt jetzt sogar nahe zu sagen: Dieser Priester hat – christlich gesprochen – nicht nur keinen Glauben, vielmehr auch als ein Liebender tritt er nirgends in Erscheinung. Wäre er so immer bloß „eine tönende Schelle“ gewesen und hätte ganz und gar (im Sinne des 1. Korinther, 13) „der Liebe nicht“, weder als Geliebter, noch als Liebender?
    Müsste unser Gesamtfazit also dieses sein:
    Sein Rechtfertigsversuch vor sich selber und virtuell den potentiellen Zuhörer…n und Leser…n ist gescheitert. Weder aus dem Glauben, noch aus der Liebe (Eros und/oder Agape) heraus hat er sich selber vor wem auch immer überzeugend zu rechtfertigen vermocht.
    Wenn er das bis zuletzt selber nicht gemerkt haben sollte, – und ist es nicht so? – , hätte diese Novelle einen deutlich tragikomischen Charakter.

  4. Günter Landsberger

    a) Stellt die ganze Novelle RBs den scheiternden Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsversuch eines an „der“ (?) „Krankheit zum Tode“ erkrankten, priesterlichen Ästhetizisten dar, so konnte es ganz am Anfang derselben noch als ungewiss erscheinen, in welchem Sinne – in welcher spezifisch bedrängten Situation vielleicht – der Ich-Erzähler auf sein Sterbelager zu liegen gekommen ist.
    Ganz am Schluss wird dieses Lager übrigens keineswegs mehr Sterbelager, sondern „Krankenlager“ (S.156) genannt, so als ob es auf den akut und bald oder später eintretenden Tod nun gar nicht mehr ankäme. Wird in der „Verzweiflung“, um mit Sören Kierkegaard zu sprechen, in „der Krankheit zum Tode“ also, der Tod vor dem Tod in einer unaufhörlich scheinenden Unruhe bereits vorweggenommen?
    Das vorletzte Schlussbild wirkt untröstlich: „Und nach und nach beginnt die Wahrheit aufzusteigen wie eine Leiche, wie eine Leiche, die vom Grund des Meeres aufsteigt oder aus einer Schlucht. Ich sehe ihren trägen Schatten hinter den Hügeln eines versteinerten Planeten.“ (S.156) Eine private Assoziation stellt sich zwar unaufhaltsam in mir ein, meine Erinnerung an Georg Trakls Gedicht „Die Sonne“, mit dem Schlussvers: „Sonne aus finsterer Schlucht bricht.“ Halten wir uns aber an den eigenen Wortlaut dieser „Nachtstück“-Passage, dann stellt sich mir vordringlich die Frage: Handelt es sich hier um ein Stück „negativer Religion“? Ist hier wenigstens im erzählerischen Wortlaut noch, wie schwundstufenartig auch immer, von Metaphysik die Rede? Anwesend gehalten bloß noch in der Form einer visionären Darstellung ihrer Abwesenheit, ihres Verschwundenseins? Das Leben lebt nicht, könnte man sagen.
    b) Das Bild des Guamalteken verdankt sich halb der Erinnerung und halb seinem Blick aus dem Fenster seiner Mansarde, seinem Blick hinaus auf die Stadt Paris. Nachdem das Bild gemalt ist und fertig (?), wird dennoch der Blick aus dem Fenster durch den Guamalteken ständig wiederholt. Er verbringt seine Stunden fast nur noch damit, aus dem Fenster auf die Stadt Paris zu schauen. Seine Besucher, der chilenische Diplomat und Ernst Jünger, der Schriftsteller und Hauptmann der deutschen (bzw. „germanischen“, S.41) Besatzungs- und Nötigungsarmee, schauen vordringlich sein bereits gemaltes Bild an, nehmen von ihm selber kaum noch etwas wahr, vor allem nur, dass er schweigsam ist, nichts isst und – ihnen den Rücken zukehrend – unentwegt aus dem Fenster sieht. Mit ziemlicher Sicherheit werden seine Besucher nicht am frühen Morgen zu ihm gekommen sein, eher am Nachmittag und/oder Abend. Es entsteht also ein fortdauernder Kontrast zwischen dem Bildtitel „Ansicht der Stadt Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang“ und der vorherrschenden Tageszeit des wahrgenommenen Künstler-Blickes auf die Stadt Paris. Für mein Gefühl ließe sich das beinahe zuspitzen auf den Gegensatz „Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang“ und „Paris eine Stunde vor Sonnenuntergang“. Hatte sich dieser doppelte Blick schon im gemalten Bilde gezeigt, so dass schon da an dem Doppelsinn des Wortes „Dämmerung“ durch bewusste, bildliche Verschränkung angeknüpft worden war?
    Hält die Beschreibung des Bildes auf Seite 45 die Möglichkeit dieser Deutung offen?
    „Das Gemälde zeigte die mexikanische Hauptstadt, gesehen von einem Hügel, oder vielleicht auch vom Balkon eines höheren Gebäudes. Grün und Grau sind die vorherrschenden Farbtöne. Einige Stadtviertel wirken wie Meereswogen. Andere wie Negative von Fotografien. Menschliche Gestalten sind nirgends zu entdecken, hingegen sieht man hie und da verwischte Skelette, die sowohl von Menschen als auch von Tieren stammen können.“
    Hinweise auf eine sintflutartige Überschwemmung („Meereswogen“), auf die Kehrseite einer ex negativo gesehenen urbanen Welt nach einer nur Skelette von undefinierbaren Lebewesen hinterlassenden Katastrophe entnehme ich dem Text direkt. Dass das Bild dann aber dennoch die Morgendämmerung und nicht die Abenddämmerung darzustellen beansprucht, empfinde ich als pointierte und zugleich verschwiegen gelungene Provokation.
    Was kann da, in solch einer Situation noch anfangen? Was noch angefangen werden?

  5. Aléa Torik

    Liebe Boanisten,
    ich werde mich am Wochenende noch einmal melden und auf die Kommentare eingehen. Ich bin gerade etwas unkonzentriert. Ich sage auf jeden Fall noch etwas zu den Anmerkungen.

  6. Aléa Torik

    Ich muss mich entschuldigen, aber ich finde erst jetzt Zeit auf die Kommentare einzugehen.

    Lieber Andreas Gierth
    was die Metaphorik dieses Bild betrifft: du bittest mich, darauf noch einmal einzugehen. Ich habe das versucht, aber ich kann nicht; alles was ich sagen könnte, habe ich schon in den Artikel hineingeschrieben. Ich bitte in diesem Punkt um Entschuldigung.

    Gedächtnis und Erinnerung sind ja grundverschiedene Dinge. Die besitzen auch in ihrer Thematisierung durch die Wissenschaften andere Orte und Werte. Es gibt die sogenannte Mnemotechnik, die Gedächtniskunst, die bestimmte Dinge und Umstände, die sie eines Tages wieder hervorholen will – an Orten ablegt: das ist eine räumliche, topologische Vorstellung, zu der auch die des Gedächtnisses als ein Brunnenschacht passt. Das ist eine Methode gegen das Vergessen. Erinnerung hingegen hat eher einen temporären Aspekt und wird auch in anderen Zusammenhängen thematisiert. Da ist vor allem ein Aspekt wichtig: das Unwillkürliche. Also genau das, was die Konzeption von Gedächtnis umgehen will. Er wird vergessen (!) und dieses Vergessene kann erinnert werden, aber nicht willkürlich, nicht aufgrund einer Absicht. Berühmt und tausendfach zitiert ist da natürlich die Szene mit der Madeleine bei Proust.

    Ich kann das hier nicht einmal annähernd leisten, diese verschiedenen Erinnerungskonzeptionen anzureißen: ich kenne Sigmund Freud. Walter Benjamin, Maurice Halbwachs. Die Literatur dazu ist einfach absolut unübersichtlich. Die Philosophie beschäftigt sich mit Erinnerung seit zweitausend Jahren.

    Ich weiß nun meinerseits nicht, was das sein soll, das „Vergessen des Vergessens“. Kommt das im Text vor, ich kann mich da nicht dran erinnern (sic!). Es gibt eine schöne Äußerung von Umberto Eco und einen entsprechenden Aufsatz: „An Art oblivionalis? Forget it!“ Also etwa: „Eine Kunst des Vergessens? Vergiss es!“

    Lieber Bücherblogger,
    meine letzten Worte des Artikels geben lediglich meinen persönlichen Eindruck wieder, das ist auf der Ebene eines Geschmacksurteils angesiedelt. Bis dahin habe ich mich mehr oder minder nah am Text bewegt, zumindest habe ich es versucht. Das ist aber keine Volte, wo ich plötzlich das Gegenteil dessen behauptet, was ich zuvor gesagt hatte. Ich bin tatsächlich mit einigen Dingen in dem Buch nicht zufrieden.

    Dazu gehört beispielsweise, dass ich sehr viele Banalitäten lesen muss und sehr wenige tiefergehende Bemerkungen. Da ist zum Beispiel die Europareise: ich muss Seiten um Seiten lesen – Seiten, denen man sicher mit exegetischem Werkzeug zu Leibe rücken kann – und ich finde nur einen einzigen Satz, der den Sinn des Ganzen andeutet, die Worte, mit denen Lacroix einen Brief Señor Odeims kommentiert: „ … ein vollkommen lächerlicher Brief. Der nichtsdestoweniger einen weiteren Brief in sich zu verbergen schien, nicht zu entziffern und sehr viel ernsteren Inhalts, der mich mit großer Sorge erfüllte …“. Die Figur des Literaturwissenschaftlers Lacroix ist da als eine lächerliche und lachhafte beschrieben, lächerlich auch, dass er sich als für diesen Job als die ideale Person empfindet: den Tauben beim Kacken zuzugucken.

    Von diesen Dingen, die mir nicht gefallen, gibt es sehr viel: die Vogel – Metaphorik finde ich insgesamt nicht durchgehalten, dasselbe gilt für die mehrfach angesprochene Labyrinth – Metapher; ich komme als Leserin mit diesem Ende zu keiner Möglichkeit, die persönliche oder politische Situation der Hauptfigur zu verstehen. Ich stehe eher vor einem Rätsel.
    Das empfinde ich als von Bolano nicht gut umgesetzt: aber wir sind auf der Ebene des Geschmacksurteils. Ich habe, jetzt, wo ich nicht einmal in dem Buch blättere und die markierten stelle anschaue noch deutlicher das Gefühl, dass das Buch nicht fertig ist.

    Lieber Günther Landsberger,
    natürlich müsste eine literaturwissenschaftliche Kategorisierung auch Gründe nennen und Argumente bringen. Aber das ist ja kein akademischer Kreis und die Erläuterungen, die dann in diese Richtung gingen, hätte ich als ziemlich trocken empfunden. Das wollte ich weder mir noch anderen antun.

    Kierkegaard schreibt, dass die Krankheit zum Tode die Verzweiflung ist. Die kann ich hier aber gar nicht erkennen. Vielversprechender finde ich den Ansatz, dass der Maler, dessen fertiges Bild im Raum steht, weiterhin aus dem Fenster schaut: wir kennen seine Emotionen nicht, und die beiden Besucher fragen auch nicht danach: anders als bei Schriftstellern, bei denen wir die Worte haben, müssen wir bei Malers oft auf die Interpretation durch den Urheber verzichten (und viele Maler, die ihre Werke in Worte fassen mussten, hätten vielleicht besser geschwiegen, da Worte nun einmal nicht ihr Medium sind: die sollen malen, nicht reden und erklären). Wir haben nur das Bild. Und der Guatemalteke preist es ja auch nicht an. Er hat damit abgeschlossen. Das empfinde ich als das Erhebende und Erhabene an dieser Figur, und auch das tragische Moment. Für mich hat Lacroix als Figur gar keine Dichte, anders als dieser Maler.

    So, ich hoffe, das hat ein bisschen zur Klärung meiner Absichten beigetragen.

    Aléa Torik

  7. Günter Landsberger

    Liebe Aléa,
    hier nur ein paar spontane Gedanken zu Deinem dankenswerten neuerlichen Beitrag:
    „Vergessen des Vergessens“, scheint mir, ist am ehesten als eine Erläuterung zum Freudschen „Verdrängungsbegriff“ aufzufassen. Es wird dabei nicht nur einfach etwas vergessen, worauf man vielleicht wieder von selbst kommt, sondern es wird auch noch vergessen, dass etwas vergessen wurde. –
    Gattungsfragen, ob nun eine mustergültige Novelle oder ein Roman, interessieren mich auch nicht vordringlich, schon eher, ob ein Autor vielleicht bewusst auch mit solchen Gattungserwartungen spielt. (Zum Beispiel: Ob Fontanes „Schach von Wuthenow“ eher als Roman oder eher als Novelle zu betrachten ist, finde ich nachrangig. Mir sagt dieses Werk so oder so zu.) –
    Die politische und persönliche Situation der Lacroix-Figur lässt sich vielleicht deshalb nicht so ganz überzeugend von uns Leser…n verstehen, weil es sich hierbei um einen Ich-Erzähler handelt, der sich selber nur scheinbar (!) zutiefst ergründen und verstehen will, ja sogar solch einem Selbstverständnis recht häufig selbst im Wege steht. Was lässt er in sein Bewusstseinszimmer hinein und was schimmert nur durch? (Ist dies lesend herausfinden zu wollen, nicht auch ein gewisser Reiz einer solchen perspektivisch eingeschränkten Ich-Erzählung?) –
    Darf man von „Verzweiflung“ nur sprechen, wenn sie als solche der verzweifelten Person bereits empfindlich bewusst ist? Kierkegaard spricht gelegentlich auch von einer „stillen Verzweiflung“, vielleicht auch von einer vor einem selbst verborgenen oder (bei höherem Bewusstseinsgrad) nicht eingestandenen. –
    Was nun den Grad der Wertschätzung des „Chilenischen Nachtstücks“ angeht, so gebe ich gerne zu, dass Bolaño für mich vor allem der überaus schätzenswerte Autor von „2666“ ist und dass ich dazu neige, auch alles andere, was er geschrieben hat, daraufhin oder aber vor diesem bedeutenden Hintergrund zu sehen. (Auch wenn ich nicht ständig, noch dazu online, mir womöglich auffallende Gemeinsamkeiten und Unterschiede, nuancierte Abweichungen und eklatant andersartige Gestaltungsversuche im direkten Vergleich hervorzuheben beabsichtige.)

  8. Günter Landsberger

    In unserem Zusammenhang würde ich noch gerne – auch um Dieter Forte zu ehren, der morgen 75 wird – , mindestens 4 Seiten aus Dieter Fortes Roman „Auf der anderen Seite der Welt“ frech herausreißend zitieren (F.a.M. 2004, S.249 – S.253), begnüge mich hier aber natürlich mit weniger. Zunächst ein „kurz und gut“ – Zitat zum Thema „Geschichte und Geschichten“, dann noch eins zum Thema „Erinnern“:
    a) „Jeder Mensch hat eben so seine Art zu erzählen, und vor allem hat er nur seine Geschichte, für ihn die einzige, und jede Geschichte ist einzigartig, und alle Geschichten zusammen ergeben überhaupt erst die wirkliche Geschichte, die ist gar nicht zu verstehen ohne die Geschichten der Menschen, die da drin versteckt sind. Ist wie das Wechselgeld auf einen Hunderter, man hat viele abgegriffene Münzen in der Hand, da sieht man erst, was so ein Hunderter bedeutet, sonst steckst du die Blüte ja so weg, ist einfach ein Hunderter.“ (a.a.O., S.250)
    b) „Zwischen seinen Reden zitierte Kurz und Gut hustend, eine Zigarette im Mundwinkel, Camus: Ein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, könnte mühelos hundert Jahre in einem Gefängnis leben, er hätte genug Erinnerungen. Das war ein Gedanke, der ihn faszinierte, der ihn mit der Welt versöhnte, der ihm half, seine Tage und Nächte zu leben: Leben ist Erinnerung und sonst nichts. Ohne Erinnerung wären wir vergessene Sterne, Schall und Rauch. Die Dinge haben keine Bedeutung, wenn sie keine Geschichte haben. Vielleicht haben sie noch eine Bezeichnung pro forma, aber was bedeuten sie? Erst eine Geschichte gibt allem um uns herum die Bedeutung, die wir verstehen. Ist wie der Anker an einem Boot, ohne Anker treibt es weg, ist nicht mehr vorhanden. Dann such mal dein Boot, sagte Kurz und Gut, ohne einen Ankerplatz stehst du mit den Füßen im Wasser.“ (ebd., S.251)

  9. Der Buecherblogger

    Bolaño kann auch enttäuschen, ich kenne das Gefühl. Wenn ich als Leser z. B. eine genau strukturierte Auflösung der Handlungsweise oder der Motive einer Figur suche, um sozusagen eine Spur Erkenntnis als Destillat des Lesens zu gewinnen, kann es sein, dass ich in eine Art „Niemandsland“ oder „Sinnwüste“ geführt werde. Wie die Suche nach einer Person, die schon von vornherein als unauffindbar geplant war (Archimboldi) oder ein Erzählstrang, der plötzlich abbricht und ich mich frage, wie es weitergeht. Kurz gesagt: Abgrund und dann Nichts. Mir sollte doch ein Geheimnis erklärt werden und nun bleibt das geschilderte Geheimnis selbst ein Geheimnis. Enttäuschung, was soll das. Hier sehe ich nun eine Parallele zur Malerei und dem Bild des Guatemalteken, sowie dem Satz: „die sollen malen, nicht reden und erklären.“ Auch Bolaño malt schnell beim Schreiben, bildet ständig gleichzeitig seine Figuren, die Welt und auch die eigenen Gedanken mit ab. Im Künstlerbild des namenlosen Gualtemalteken klingt soetwas wie ein Selbstporträt Bolaños mit. Sein mexikanisches, surrealistisches Sonnenaufgangsgemälde ist quasi eine Art Äquivalent des Romans selbst, den wir gerade lesen. Er bleibt Ausdruck, nicht Erklärung und auch die Absicht wird nur als Subtext spürbar. Diese prinzipielle Offenheit des skizzenhaften Schreibstils Bolaños kann man aber auch als neue erzählerische Form verstehen und genießen.

  10. Günter Landsberger

    @ Der Buecherblogger
    Auch hierzu findet sich bei dem heutigen Geburtstagskind Dieter Forte (provokativ?) Passendes: „Aber die Statik einer endlosen Bewegung, die sich nur scheinbar bewegt, die in der Bewegung auf der Stelle verharrte, interessierte ihn immer noch, und so stand er vor dem Reiterstandbild und grübelte: Bewegt sich und bewegt sich nicht. Das ist wie bei den Geschichten, man kann sie nicht zu Ende erzählen, man muß immer wieder von vorne anfangen, denn am Ende fängt ja alles wieder von vorne an, alle Geschichten kreisen um die gleiche Leere, um das gleiche Nichts, und es ist immer das Leben, das man in den Geschichten sucht und begreifen möchte.“ (a.a.O., S.251)

    „Alles war nur noch ein Mosaik aus Worten, Sätzen, bestenfalls kurzen Lebensläufen. Weil es in der Welt keine Idee mehr gab, die große Geschichten ermöglichte und zusammenhielt, kein Lebensweg, der den Menschen über das Geschehen erhob, nur noch ein kurzatmiger Erzähler, der die Bruchstücke sammelte, weiter erzählte, wissend, daß es Bruchstücke waren, eine ausgeformte, sinnvolle Erzählung wäre eine Lüge gewesen. Da war nur noch eine Stimme, eine Stimme, die sprach, es war unwichtig, wer erzählte, es kam darauf an, eine Stimme zu hören, die eine Stimme, die die Erinnerung war.“ (ebd. S.253)

    Worin nun liegt der Unterschied zwischen diesem Erzählkonzept von Dieter Fortes Romanfigur „Kurz und Gut“ und demjenigen RBs und seiner Erzählfiguren?

  11. Herbert Fraunhoffer

    „Eine der Schulen von Tlön kommt zur Leugnung der Zeit; sie stellt die Überlegung an, daß die Gegenwart undefiniert ist, daß die Zukunft nur als gegenwärtige Hoffnung Wirklichkeit hat, daß die Vergangenheit nur als gegenwärtige Erinnerung Wirklichkeit hat². Eine andere Schule behauptet, daß bereits die ganze Zeit abgelaufen ist und daß unser Leben nur die nachdämmernde Erinnerung oder der unzweifelhaft verfälschte und verstümmelte Widerschein eines unwiederbringlichen Vorgangs ist.(..)
    2. Russell (The analysis of mind, 1921, p159) setzt voraus, daß der Planet vor wenigen Minuten erschaffen wurde, ausgestattet mit einer Menschheit, die eine illusorische Vergangenheit >>erinnert<<."

    Das schreibt Jorge Luis Borges in "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", zwar über den erfundenen Planeten, aber was die Erinnerung angeht lässt es sich sehr gut auch auf die Erinnerungen von Sebastian Urrutia Lacroix beziehen.

Schreibe einen Kommentar

Basic HTML is allowed. Your email address will not be published.

Subscribe to this comment feed via RSS