II. Drei Tage mit Bolaño
Über die drei Tage Anfang April 2001, an denen ich viel mit Roberto zusammen war, habe ich in einem Artikel für die Literaturzeitung Volltext berichtet. Roberto hat mich vom ersten Augenblick an als Kollegen, als „jungen“ Schriftsteller behandelt, er interessierte sich nicht im geringsten für die Frage, ob ich auch bekannt oder gar berühmt sei – tatsächlich existierte und existiere ich nur am Rand dieses Betriebs. Als Roberto den Wunsch äußerte, Bücher von mir zu sehen, wollte er keinen Beweis, sondern einfach nur das, meine Bücher sehen (lesen konnte er sie nicht). Ich führte ihn in die Zentralbuchhandlung beim Stephansdom, weil ich sicher sein konnte, daß dort wenigstens eins oder zwei meiner Bücher in einem Regal standen. Robertos Verhältnis zu Autoren (besonders zu Dichtern) ist so wie das der Dichter in Die wilden Detektive untereinander. Erfolg ist kein Kriterium, die dichterische Lebensform genauso wichtig wie die Veröffentlichungen, das Schreiben (um jeden Preis) mindestens so wichtig wie das Ergebnis.
Wahrscheinlich bin ich Roberto damals auch als bicho raro erschienen, als seltsamer Vogel, denn ich kam gerade aus Buenos Aires, würde demnächst wieder zurückfliegen, war in Wien trotzdem ein Einheimischer. Roberto hatte vor vielen Jahren Mexiko verlassen. Ich glaube, in Spanien und dort in Barcelona zu leben, war eine sehr bewußte Entscheidung von ihm, und wenn man die in Santa Teresa spielenden Teile von 2666 liest, liegt die Vermutung nahe, daß der Autor dieses gegenwartsnahen Zukunftsromans das Alltagsleben in Mexiko für schwer erträglich hielt. Einer der Sätze Robertos, die sich wie ein plastisches Gebilde in mein Gedächtnis eingeprägt haben, war: „Europa ist der beste Ort zum Leben.“ Eine recht triviale Erkenntnis, gewiß. Eine von Robertos besonderen Fähigkeiten bestand darin, allzu Bekanntes in plötzlich verändertem Licht erscheinen zu lassen. Oft habe ich seither gedacht: Ja, trotz allem, Europa – nicht Deutschland oder Spanien oder Katalonien, sondern Europa – ist der beste Ort zum Leben, und so viele andere, Afrika (siehe die Schlußpassagen der Wilden Detektive) oder Mexiko oder Argentinien, aber ein ordentliches, sauberes, ungefährliches Land wie Japan, wo ich seit dem April 2002 wohne, sind schwer zu ertragen. (Unsere Gespräche damals lassen mich vermuten, daß Roberto auch die USA für unerträglich hielt.) Und ich, mitten in Europa geboren, in einem reichen Land mit einer sagenhaften, in den sagenhaften europäischen Osten weisenden literarischen Tradition, hatte mein Land verlassen, um in Buenos Aires Wohnung zu nehmen, in einer Gegend also, der sich Roberto nicht als „Lateinamerikaner“, sondern durch literarische Prägungen ein wenig zugehörig fühlte (Macedonio Fernández, Borges, Gombrowicz, Cortázar sind seine Vorläufer).
Ich sprach Spanisch mit dem Akzent von Buenos Aires, kannte die Literatur diesseits und jenseits des Río de la Plata, hatte Ricardo Piglia übersetzt, den argentinischen Intellektuellen, der volkstümliche Krimis zu schreiben verstand, aber auch José Emilio Pacheco, den schlichten, dabei hochbelesenen Dichter aus der Colonia Roma im mexikanischen De-Efe. Auch Michel Houellebecq hatte ich übersetzt, diesen – wenigstens in seinen ersten Gedicht- und Prosawerken – „romantischen Hund“ (um den Titel eines Gedichtbands von Bolaño zu zitieren). Plateforme war damals noch nicht erschienen. Roberto stellte mir neugierige, auch wenig skeptische Fragen und sagte (sinngemäß): „Der Arme muß gewaltig unter sexuellen Komplexen leiden.“ Wieder einmal: keine Trennung von Autor und Werk, keine Trennung von Literatur und Leben. Die schonungslose Darstellung sexueller Frustration, dieses vor dem Erscheinen von Ausweitung der Kampfzone weitgehend unbekannte literarische Terrain, ist so ziemlich das Gegenteil der überschwänglichen, zuweilen auch perversen Sexualität, die man bei Bolaño oft findet. Lebenslust wider die zivilisierten, barbarischen Todesengel – statt Klage und Anklage, j’accuse… Die wilden Detektive sind nicht frustriert, sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, sind nicht bloß Opfer des Spätkapitalismus oder des, wie Houellebecq suggeriert, pseudorevolutionären Hedonismus.
Lesen Sie morgen: III. Daß die Vögel vom Himmel fallen – „Lautaro erzählt in dem Interview einiges über seinen Vater (Roberto), etwa daß sie zusammen oft stundenlang Computerspiele spielten und dieselbe Musik mochten, zum Beispiel Pink Floyd oder Bob Dylan…“
Bisher:
I. Das Steuer anders stellen Neochilenische Weltliteratur
Leopold Federmair, geboren in Oberösterreich, studierte in Salzburg, unterrichtete an Universitäten in Frankreich, Italien und Ungarn, lebte in Wien und in Buenos Aires, seit 2002 in Japan, seit 2006 in Hiroshima. Schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen. Buchveröffentlichungen u.a. Die Gefahr des Rettenden (1992), Das Exil der Träume (1999), Kleiner Wiener Walzer (2001) Ein Büro in La Boca (2009). Im Herbst 2010 erscheinen der Roman Analogia entis im Otto Müller Verlag (Titel vom Verlag noch nicht abgesegnet) und der Essayband Buenos Aires, Wort und Fleisch bei Klever. Übersetzungen (Bücher) u.a. von José Emilio Pacheco, Ricardo Piglia, Michel Houellebecq, Michel Deguy, Francis Ponge. Gedichte u.a. von Juan Ramón Jiménez, Jorge Luis Borges, Juan Gelman, José Watanabe, Ugo Foscolo, Ignazio Buttita, Serge Gainsbourg, Jacques Roubaud. Essays u.a. von Antonio Tabucchi und Roberto Bolaño.
One Response to “II. Drei Tage mit Bolaño”
Jetzt weiß ich, woran genau mich der aktuelle Titel hier erinnert hat.
Vgl.: Freund, Gisèle:
Drei Tage mit James Joyce. Mit e. Vorw. von Philippe Sollers. [Aus d. Franz. von Franz-Heinrich Hackel. Die Ausw. d. Fotos besorgte Hans Georg Puttnies], Suhrkamp-Taschenbuch , 929.
1. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1983. 70 S. : überwiegend Ill. (z.T. farb.)