Invektive und Abgrenzungen

Gibt es irgendwo einen Text bei RB, in dem Octavio Paz in irgendeiner Weise positiv wegkommt? Eine vorwiegend negative Sicht schimmert meiner Erinnerung nach doch überall mehr oder minder durch. (?) – Für mich kam das durchaus überraschend, da ich spätestens seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt  an ihn (am 7. Oktober 1984) Octavio Paz durchaus in einem guten Lichte gesehen habe. Wie in fast all diesen Fällen seit Jahren habe ich mir auch damals diese Preisverleihung samt Preisreden in voller Länge im Fernsehen angesehen. Auch an die Laudatio durch unseren damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker konnte und kann ich mich noch lebhaft erinnern. Unlängst habe ich diese im Essayband Richard von Weizsäckers „Die politische Kraft der Kultur“ (Reinbek bei Hamburg 1987, S.63 – S.78) wiedergefunden und gleich darauf von neuem gelesen.

RBs Invektiven und Abgrenzungsversuchen gegenüber Octavio Paz stehe ich dennoch nicht verständnislos – und alles andere als empört – gegenüber. Zu häufig habe ich gerade unter Schriftstellern (Künstlern überhaupt, auch Philosophen) ein derartiges Sich-Abreagieren zumal an anerkannten Zunft- und Zeitgenossen beobachten können. Wieviel auf den ersten, mitunter auch auf den zweiten  Blick als unintelligent erscheinende Wut ist da bisweilen mit im Spiel? Wenn Kleist gegen Goethe kämpft, die Romantiker Schiller lächerlich machen oder Hegel sich vernehmlich gegen die (auch von Goethe) als krank oder zumindest nicht als gesund apostrophierte Romantik ausspricht; mehr noch, wenn der nicht unter die Romantik zu verrechnende Philosoph Schopenhauer gegen den „frechen Unsinnschmierer“ Hegel ausfallend wird oder Friedrich Hebbel Adalbert Stifters „Nachsommer“ verspottet. Auch im 20. Jahrhundert beobachte ich zwar die (durchaus interessanten und aufschlussreichen) Kontrapositionen und oft unversöhnlichen Frontstellungen, wie die z. B. zwischen Brecht und Benn, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Musil, H.H. Jahnn und Thomas Mann, ohne dass ich das etwa so sähe, dass ich mich gefälligst nun auf eine Seite schlagen müsste. Gewiss habe auch ich meine eigenen Vorlieben, mag das eine manchmal etwas mehr als das andere, aber als Leser brauche ich nicht einseitig und absolutistisch unbedingt Partei zu ergreifen, sondern bin stattdessen weit eher froh über eine mir hochwillkommene Fülle und  Vielfalt bedeutender Literatur.

Dennoch: Die Künstler selber brauchen diese Abgrenzung, dieses Abarbeiten, manchmal auch die Ungerechtigkeit gegeneinander, um sich in eigenen Werken voneinander abheben zu können, sich vielleicht überhaupt erst selber finden zu können.

(Umgekehrt: Die in diesem unserem Lande – Kohlton! –  sehr verbreitete und auch aus ableitbaren und oft nachvollziehbaren geschichtlichen Gründen verfestigte Negativfixierung in der Beurteilung Ernst Jüngers scheint bei RB keine Rolle zu spielen. Dass Ernst Jünger und sein Werk bezüglich seines Wertes und Stellenwertes hier bei RB des öfteren anders beurteilt wird (werden) als zumeist bei uns selbst, könnte auch uns zu denken geben. Die geographisch-geschichtliche Nähe oder Ferne von politischen und kulturellen Diskussionen spielt  eben doch recht häufig eine große Rolle bei all unseren Bewertungs- und Geschmackurteilsversuchen.)

6 Responses to “Invektive und Abgrenzungen”

  1. platero y yo

    Lieber Herr Landsberger,

    auf S. 47 des „Stern in der Ferne“ rät der Literaturkritiker Ibacache dem Aeropoeten Carlos Wieder
    „…fleißig zu lesen. Lesen Sie, junger Mann, schien er zu sagen, lesen Sie die englischen und die französischen und die chilenischen Dichter, und lesen Sie Octavio Paz.“

    Liebe Grüsse

    Jens

  2. Marvin Kleinemeier

    Auch in einem Interview aus der Sammlung „The last interview and other conversations“ äußert er sich zumindest wohlwollend über Paz.

  3. Günter Landsberger

    Vielen Dank, lieber Jens, lieber Marvin, für die hilfreichen Hinweise. Jetzt wäre auf die jeweilige Perspektive, den situativen Kontext und die eventuelle Ambivalenz der ggf. wechselnden Paz-Erwähnungen und -Würdigungen bei RB zu achten.

  4. Dietmar Hillebrandt

    Die von Herrn Landsberger richtig gespürte negative Konnotation in bezug auf die „Großen Alten“ der lateinamerikanischen Literatur, etwa Marquez, Vargas Llosa oder auch Paz richtet sich meiner Meinung nach nie auf den einzelnen Schriftsteller, sondern eher den Mythos ihrer Rezeptionsgeschichte, vgl. Der „Chtulhu-Mythos“ (H. P. Lovecraft läßt grüßen) aus „Der unerträgliche Gaucho“. Ein letzter Vortrag über lateinamerikanische Literatur, in dem er den Hype um diese Schriftsteller, aber auch Erfolgsschriftsteller wie Pérez-Reverte und letztlich den großen Konsum, der hinter der Literatur steht, kritisiert. Paz hat ja zumindest in Bezug auf das Massaker von Tlatelolco (Amuleto) 1968 den diplomatischen Dienst quittiert und somit auch politisch eine eher solidarische Position bezogen.

  5. Marvin Kleinemeier

    Vor allem die literarische Qualität der Werke der genannten Autoren wird von Bolaño in dem von Dietmar erwähnten Beitrag restlos anerkannt. Vielmehr sehe ich seinen Standpunkt als Contra zur Einseitigkeit der Rezeption (Siehe auch die Verteidigung Parras gegenüber Neruda).

  6. Dietmar Hillebrandt

    Auxilio Lacouture träumt von „idiotischen Prophezeihungen“ in „Amuleto“ S. 140/141:

    „Nicanor Parra hingegen werden sie 2059 eine Statue auf einem Platz irgendwo in Chile errichten. Genauso wie Octavio Paz 2020 in Mexiko…
    All diese Statuen aber fliegen, durch göttliche Einwirkung oder, prosaischer, durch die Einwirkung von Dynamit, wie die von Heinrich Heine.

    Ironisierung des Autorenkultes, vielleicht wäre ihm sogar der momentan eigene suspekt?
    Ansonsten hat Herr Landsberger recht, dass die Reibereien der Autoren aneinander zum literarischen Geschäft gehören.

Schreibe einen Kommentar

Basic HTML is allowed. Your email address will not be published.

Subscribe to this comment feed via RSS