Kafka in Kloaken
Wie wird es mit der Rezeption mehr oder minder bedeutender, schon heute meist geschichtlich gewordener europäischer und lateinamerikanischer Autor…n des 20. Jahrhunderts innerhalb der – großzügig gesagt – nächsten 171 – 200 Jahre bestellt sein und weitergehen? Da diese ernsthaft stellbare Frage ohne eine gewisse Spökenkiekerei wohl kaum solide beantwortet werden kann, kommt es im 13. Kapitel über mehr als vier Seiten hinweg zu einer stolzen Reihe von unsere Phantasie heftigst in Gang setzenden Prognosen und Prophezeihungen. Viel Spiel und Spaß sind wohl auch dabei, obwohl man sich immer auch fragen kann, was muss inzwischen Schlimmes oder Gutes passiert sein, dass der oder die jetzt in so hohem oder so minderem Ansehen stehen. Die spielerische Vorwegnahme einer real vorstellbaren bis abstrusen Rezeptionsgeschichte suggeriert jeweils einen parallelen oder konträren, immer aber irgendwie grundierenden „realen“ Geschichtsgang, der hier als solcher – äußerst indirekt – nur angedeutet wird.
Es fällt auf, dass diese „Prophezeihungen“ das Jahr 2666 nicht erreichen, ja, weit unterschreiten. Das äußerste Datum ist 2171, ein (gezielt zufällig?) mit einem Surrealisten verknüpftes: „André Breton wird um 2171 den Spiegeln (!, GFL) entsteigen.“ Ein anderer französischer surrealistischer Autor wurde vorher schon mit dem Jahr 2101 verknüpft: „Paul Eluard wird im Jahre 2101 ein massenhaft gelesener Dichter sein.“ Dieses Jahr 2101 scheint merkwürdigerweise auch wichtig für die Rezeption der deutschsprachigen Literatur zu sein; wie aus den folgenden zwei prognostischen Notaten im Verbund zu entnehmen ist: „Im Jahre 2101 wird sich Thomas Mann in einen ecuadorianischen Apotheker verwandeln.“ (S.141) + „Kafka wird im Jahre 2101 in allen Kloaken (!, GFL) und unterirdischen Kanälen Lateinamerikas gelesen werden.“ (S.142) Zudem: Parallelformulierungen zu verschiedenen Jahren: „Arno Schmidt wird 2085 der Asche (!, GFL) entsteigen.“ + „Paul Celan wird um 2113 der Asche (!, GFL) entsteigen.“ (S.142) Ja, Autor…en der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts werden in dieser phantasievollen Prognosenreihe neben den Lateinamerikaner…n vielfältig genannt, gerade auch bedeutende deutschsprachige.
Zum ersten Mal aber im ganzen „Amuleto“-Roman kommen nicht mehr nur vordringlich Lyriker… vor, sondern auch Erzähler… von Prosawerken, die wie Anton Tschechow (S.143) indessen zusätzlich ebenso bedeutende Dramatiker zu sein vermögen.
One Response to “Kafka in Kloaken”
À propos „Kloake“! – Bei Ernesto Sábato, diesmal in seinem Roman von 1948 „Der Tunnel“, finde ich zum Abschluss des 32. Kapitels folgenden Satz, geschrieben aus der Sicht des Ich-Erzählers, des argentinischen Malers und inhaftierten Mörders Juan Pablo Castel:
„Mein Gott, man kann wirklich an der menschlichen Natur verzweifeln, wenn man bedenkt, dass es zwischen gewissen Momenten von Brahms und einer Kloake versteckte und finstere unterirdische Verbindungen gibt!“ (Berlin 2010, S.135f)