Lasst uns nicht wegschauen!
Grandios! Bolaños 2666 in der Schaubühne von Tobias Fauth
Jeder im Publikum wusste, dass man nun, da das Stück zu Ende war, klatschen musste. Doch die meisten zögerten, es fiel schwer, man konnte gar nicht genau in Worte fassen, was da gerade geschehen war, was man fühlte, was man fühlen sollte. Doch von vorne. Als sich vergangenen Samstag um kurz vor 20 Uhr das ausverkaufte Studio der Berliner Schaubühne füllte, wussten viele nicht, was sie erwarten würde. Die einen, die Bolaño nicht gelesen haben, waren dankbar über die Einführung in 2666 durch den katalanischen Regisseur und Direktor des Teatro Lliure in Barcelona Àlex Rigola (Foto). Die anderen, die schon das Glück hatten, dieses Buch gelesen zu haben, fragten sich, was aus dem umfangreichen Werk gezeigt wird und wie man das umsetzen könnte. Keine leichte Aufgabe, die sich Rigola da vorgenommen hatte, nicht umsonst hat Juan Villoro 2666 als totalen Roman und vielleicht erste große Saga der globalen Literatur bezeichnet. „Da gebe ich ihm absolut recht“, sagt Rigola, „und es ist das beste Buch, das in den letzten 20 Jahren geschrieben wurde. Man kann ihm aber nicht gerecht werden, nicht nur wegen des Umfangs. 2666 ist mein bestes Stück, aber das Buch ist noch besser.“
Damals hatte er nach etwas Besonderem gesucht. Es sollte eine richtige Show werden, nichts Gewöhnliches. Durch einen Freund, der ständig davon gesprochen hat, ist Rigola schließlich auf das Buch aufmerksam geworden. „Ein Jahr habe ich mit dem Dramaturg Pablo Ley daran gearbeitet. Wir haben Szenen ausgewählt, die eine gewisse Spannung erzeugen, und bestimmte Erfahrungen von Figuren, die sich für eine Adaption eignen. Doch das Wichtigste, das was mich am meisten faszinierte, war die Fähigkeit des Menschen, Dinge zu ignorieren, einfach wegzuschauen. Das ist es auch, was Bolaño zeigen will: Jedes Problem auf der Welt ist unser Problem. Also lasst uns nicht wegschauen!“
Wegschauen, das war besonders in der letzten Szene unmöglich. Das Stück begann mit dem zweiten Teil im Buch, dem Teil von Amalfitano, gefolgt vom dritten Teil, der Teil von Fate. An, vor, hinter und auf drei weißen, längs aneinander gereihten Tischen spielte sich alles ab. Von Liebe bis Gewalt war alles dabei. Die beteiligten Schauspieler wussten allesamt zu überzeugen und schafften es immer mehr, den Zuschauer vergessen zu lassen, dass der Großteil der Texte abgelesen wurde. Sie hatten ihr Publikum im Griff.
Besonders erheiternd war die Partyszene, wo Drogen nicht fehlen durften und die Folgen zunächst in Komik mündeten. Dann folgte Gewalt: Oscar Fate sah, „wie in einer Ecke des Raums ein Mann eine Frau ohrfeigte. Die erste Ohrfeige riss den Kopf der Frau brutal herum, die zweite warf sie zu Boden. Ohne nachzudenken, versuchte Fate, dorthin zu gelangen, aber jemand hielt ihn am Arm fest. Als er sich umdrehte, um zu sehen, wer ihn zurückgehalten hatte, war da niemand. Drüben in der Ecke der Diskothek versetzte der Mann, der die Frau geohrfeigt hatte, dem am Boden liegenden Körper einen Tritt in den Bauch. Wenige Meter daneben sah er Rosa Méndez glücklich lächeln.“*
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*Zitat aus Bolaño, Roberto: 2666. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. München, 2009.
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