Lumpenroman-Kontroverse
Herbert Debes von Glanzundelend.de hat mich auf folgende Beiträge aufmerksam gemacht. Vielleicht nutzen auch wir diesen Beitrag, um ein finales Resümee zu ziehen und endlich auf die Frage zu kommen, die Andreas Gierth schon formuliert hat: Ist der Lumpenroman nun ein guter Roman oder vielleicht nicht?
»Alles Geschriebene ist Schweinerei…«
Von Gregor Keuschnig
Über Roberto Bolaños »Lumpenroman«
»Was bleibt ist das herrliche Motto von Antonin Artaud, welches dem Roman vorangestellt ist: „Alles Geschriebene ist Schweinerei […] Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit“. Die Schweinerei hätte ich gerne gelesen. Stattdessen wird mir ein ziemlich kleines Ferkelchen als Sau verkauft.«
http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/b/roberto_bolano.htm
Die Vermessung der menschlichen Abgründe
Von Thomas Hummitzsch
Eine Erwiderung auf Gregor Keuschnigs Bolaño-Kritik »Alles Geschriebene ist Schweinerei…«
»Alles, was ich geschrieben habe, ist ein Liebes-, ja ein Abschiedsbrief an meine Generation, an alle in den 50er Jahren Geborenen …«
http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/b/bolano_erwiderung.htm
12 Responses to “Lumpenroman-Kontroverse”
„Ein ideales Buch für eine Party literaturbegeisterter Philologen, die stundenlang Parallelen und Fortschreibungen berühmter (oder weniger berühmter) Werke herausdestillieren mögen.“ (G. Keuschnig) Wenn dies wirklich alles ist, was der Roman zu bieten hat, dann können wir mit ihm als „ziemlich kleines Ferkelchen“ meinetwegen diese angesprochene Party feiern, um dann aber bitte zum nächsten Roman überzugehen mit der Hoffnung auf eine große „Schweinerei“. Für mich aber ist diese Frage noch nicht entschieden. Auch Keuschnig verrät mir nicht, was es seiner Meinung nach bedarf, um den „Lumpenroman“ inhaltlich und formal als ‚Schweinerei‘ loben zu können.
Und Thomas Hummitzsch? „Der »Lumpenroman« (…) lässt den Leser in einen Abgrund schauen, ohne ihn von der Leere, die sich ihm auftut, zu erlösen. Sicher, dabei wirkt der Roman zuweilen wie ein Fragment, unvollständig, unaufgelöst, rätselhaft verkürzt – aber als solcher ist er eben ein Sprung ins ungewisse Dunkel.“ Das Wagnis ohne Erlösung in die Leere zu schauen bzw. zu springen, dieses Wagnis bloß einzugehen, ist keine große Kunst. Das mag hart klingen, aber ich rede von der Kunst und nicht vom Leben. In der Kunst kommt es für mich schon darauf an, wie ich schaue bzw. springe. Und da genügt es auch noch nicht, die ‚Vermessung des Bösen‘ als „narrative(s) Muster des Autors“ zu erkennen. Mich interessiert dieses „Muster“ einfach genauer, inhaltlich im Detail und auch formal. Dass es auch im „Lumpenroman“ um die ‚Vermessung des Bösen‘ gehen soll, scheint mir ein guter Ansatz zu sein.
„»Ich behaupte, dass wir es hier mit der ersten wirklich grauenhaften Hölle der Literatur zu tun haben«, wird der große argentinische Autor Jorge Luis Borges – auf den Bolaño neben Adolfo Bioy Casares in seinen Romanen immer wieder verweist – in »Chilenisches Nachtstück« zitiert. Bolaños »Lumpenroman« erzählt von den rätselhaften Rändern und Ausläufern dieser Hölle, durch deren apokalyptisches Zentrum uns die übrigen Romane des Chilenen geführt haben.“ (T. Hummitzsch)
In diesem vorangegangenen Absatz scheint mir, ich habe es weiter oben schon erwähnt, ein guter Ansatz zu stecken, um über das „narrative(n) Muster des Autors“ Bolano mit Blick auf den „Lumpenroman“ zu diskutieren.
Was ich mit „narrative(m) Muster des Autors“ meine, der Ausdruck stammt hier von T. Hummitzsch, könnte ich am besten anhand der Erzählung „Das Muster im Teppich“ (The Figure in the Carpet. 1896) von Henry James erklären. Neben der Empfehlung, diese Erzählung zu lesen – sie scheint mir im Übergang ins 20. Jahrhundert grundlegend für die angesprochene Problematik zu sein -, möchte ich ein kurzes Stück aus ihr zitieren:
„Es gibt doch für jeden Schriftsteller etwas ganz Bestimmtes, das all seine Bemühungen antreibt: etwas ganz Bestimmtes, das er um jeden Preis erringen möchte und um dessentwillen allein er schreibt – die Passion seiner Passion, jener Bezirk seiner Tätigkeit, in dem für ihn die Flamme der Kunst am hellsten brennt. Das ist’s! (…) Jedenfalls (…) darf ich doch so viel zu meinen Gunsten sagen: In meinem Werk steckt eine Grundidee, ohne die ich für die ganze Schreiberei keinen Pfifferling gegeben hätte. Sie ist der schönste, reichste Sinn des Ganzen, und dass ich sie durchgeführt habe, ist meiner Ansicht nach ein Sieg der Geduld und Erfindungskraft. Eigentlich müsste das ein anderer aussprechen; aber darum geht es ja gerade: dass es niemand ausspricht. Diesder mein kleiner Trick zieht sich durch alle meine Bücher, und alles andere bleibt dagegen an der Oberfläche. Die Eingeweihten werden eines Tages vielleicht erkennen, dass Komposition, Form, Struktur meiner Bücher diesen Trick vollendet spiegeln. Es ist also Sache der Kritik, danach zu suchen. Und ich meine (…), es ist auch Sache der Kritik es zu finden.“
So zumindest ähnlich könnten wir unsere Aufgabe als Leser von Bolano auch verstehen.
Ist es nicht ziemlich naiv, eine Erzählung auf die Frage gut oder schlecht zu reduzieren, wenn diese selbst genau die Indifferenz, den gegenseitigen Zwiespalt zwischen den viel zu groben Begriffen Gut und Böse zum Thema hat?
Die Beschreibung der sogenannten „narrativen Struktur“ hat bisher noch niemand konkret geleistet!
Die ganze Erzählung ist Reduktion, Filtrat vor allem auch im Sprachstil, kreist aber wie immer bei Bolaño um den dritten Begriff des untrennbaren Dreiecks menschlicher Existenz, ohne jeglichen religiösen Überbau, die Unaufhebbarkeit von Schuld.
Einen eigenständigen Beitrag auch dazu, also „Vorläufiges zum vorläufigen Schluss des Lumpenromans“, zu den letzten vier Kapiteln und zu seinem Scheinschluss, werde ich jetzt gleich – statt eines Kommentars hier – verfassen.
Lieber Andreas, meinen letzten Beitrag zum „Lumpenroman“ hab ich heute morgen verfasst, den muss ich nachher noch überarbeiten und tippen und anschließend weiterleiten. Zwei längst abgelieferte vorausgegangene Beiträge von mir stehen leider noch immer in der Warteschleife. (Ich bin also nur scheinbar noch nicht auf Deinen ausführlichen Kommentar eingegangen.)
Lieber Marvin,
warum landen die Beiträge von Günter in der Warteschleife? Ich bin neugierig auf sie.
Beste Grüße,
Andreas
Lieber Günter,
könntest Du den Artikel vorerst hier als Kommentar posten? Ich habe Probleme auf das Backend zuzugreifen. Geht es Thorsten Krämer auch so?
FETZEN 2610
Vorläufiges zum vorläufigen Schluss des LUMPENROMANS und den Kapiteln XIII – XVI
Wie der Lumpenroman endet, glaubt jeder Lesende zu wissen, der ihn gelesen hat. Und doch wird man nicht verkennen dürfen, dass schon von Anfang an ein Schluss vorgegeben wird, der überraschenderweise am buchstäblichen Ende des „Romans“ nicht wieder eigens aufgegriffen wird bzw. dann doch wohl noch nicht erreicht ist, sondern anscheinend noch bevorsteht. Wie bereits am Großroman „2666“ insgesamt und in fast jedem seiner 5 Teile schon bemerkt (s. d.), so ganz ähnlich auch hier in diesem Kleinroman: In der Zukunft noch Ausstehendes wird mitunter auf der erzählerischen Gegenwartsebene als bereits schon erreicht – angedeutet, ja herausgestellt, zugleich aber im kontinuierlich vergegenwärtigenden Erzählverlauf – selbst am Schluss – noch immer nicht ganz eingeholt.
Der gleich im ersten Satz des Lumpenromans auf der Ich-Erzählerinnenebene vorweggenommene, im faktischen Erzählverlauf dann aber bis zuletzt nicht ganz bestätigte Schluss lautet: Bianca wird am Ende Teil einer neuen Familie sein. Sie wird „verheiratet“ sein (nicht geschieden, nicht verwitwet) und Mutter eines bereits geborenen (nicht erst zu gebärenden) Kindes. Der dann offenbar aber auch noch existente Vater wird aber nirgends genannt, wodurch manche Interpreten sofort kurzschlüssig an Maciste denken, als den einzigen Mann, der für Bianca in Frage zu kommen scheint. Die Lücke im Romantext lässt da sicher einige Mutmaßungen zu, die sich aber meistens vom Romantextwortlaut her nicht halten lassen. Auch was für ein Kind, ob nun ein Mädchen oder ein Junge, hier von Bianca geboren werden wird oder worden ist, wird nirgends mitgeteilt. Was wir haben, ist die Beschränkung auf die Geschichte Biancas vor ihrer Eheschließung und der Geburt ihres Kindes oder umgekehrt, eine Geschichte, die selber wieder im „Roman“ nur als Nachgeschichte im Anschluss an das tödliche Verunglücken der Eltern eingeführt worden ist.
Auch wenn es eine Vorgeschichte vor dem Unglück der Eltern gibt, die ohnedies nur gelegentlich und äußerst sparsam in die Novelette einfließt, am Anfang des Lumpenromans steht fundamental ein Unglück und am Ende nur sehr bedingt ein Glück. Wenn die erzählerisch immer nur als Ausblick oder Behauptung vorkommende Realität familiären Glückes wirklich ein von Bianca erreichtes reales Glück sein soll, warum ist da nie ganz deutlich und naheliegend emotional und eben mehr als bloß angedeutet davon die Rede? Wird hier ein Wunsch wahnhaft für die Realität genommen?
In der Romanerzählung entfaltet finden wir nur Biancas Schritt in die Selbstständigkeit. Als sie eine „Kriminelle“ ist, da noch immer im Komplott mit den Dreien und vorrangig – obschon halbherzig – auf der Suche nach den vermuteten Reichtümern eines erst zu findenden Tresors, will sie auf keinen Fall eine „Nutte“ sein, obwohl sie in gewissem Widerspruch dazu jeweils (S.94) Geld von Maciste bekommt. Als sie den Tresor nicht findet, will sie auch keine Kriminelle sein, die sie aber der Absicht nach wie vor bleibt, da es sich ja nur um einen bloßen Mangel an Gelegenheit gehandelt hat, nicht um ein bewusstes Abstehen von einer real möglichen kriminellen Handlung. Als sie schon vor ihrer letzten Suche nach dem Tresor zweifelsfrei erkennt, dass sie in Maciste (im Widerspruch zu ihren gelegentlichen Träumen; vgl. noch S.105) doch nicht wirklich verliebt ist (S.102), ist der Entschluss zur endgültigen Trennung, die dann auch bald erfolgt (S.106), schon angebahnt. Das Geld, das sie von Maciste auch jetzt noch (zum Abschied und in einem Umschlag) erhält, nimmt sie zum Schein zwar an, um es gleich wieder möglichst lautlos auf ein Regal zu legen und so zu verweigern. Jetzt will sie nach moralfrei amoralischer Beendigung ihrer potentiellen kriminellen Karriere zweifelsfrei auch keine „Nutte“ sein. Die verschwiegene Sehnsucht nach Liebe, nach dem eigenen Liebenkönnen und nach dem Geliebtwerden (vgl. noch S.95) war und ist in ihr wohl noch vorhanden; als sie aber weiß, dass Maciste und sie kein wirkliches Liebespaar sein können, erfolgt konsequenterweise die Trennung, denn Macistes „Nutte“, „ohne etwas zu empfinden“ (S.98), will sie fortan nicht sein. Oder ist es doch ausschlaggebend, dass der Beraubungsplan scheitert und offenbar nichts bei Maciste zu holen ist? Vielleicht macht sich Bianca doch selber etwas vor über ihre wahre Gefühlslage – und indirekt damit auch uns? Immerhin: Sie sorgt entschieden dafür, dass der Bologneser und der Libyer endlich aus dem Hause kommen, indem sie sie einerseits belügt, dass ein Tresor vorhanden sei, und zugleich fordert, dass sie Macistes Tresor nun selber finden und knacken müssten, wobei nur der direkt erpresserische, nötigende und gewaltsame Weg ggf. mit Todesfolge für Maciste eine Chance habe; der Weg der Gewalt sei nun allein noch offen. Und indem sie deutlich genug etwas später auch mit der Polizei droht (S.109), rechnet sie offenbar mit der letztlichen Feigheit der beiden; die ja dann tatsächlich daraufhin verschwinden, wobei andererseits einige Tage lang Bianca anscheinend dann doch wieder mit einer bereits erfolgten blutigen Gewalttat rechnet.
Den Bruder und sich selber jedenfalls rettet sie vor dem Einfluss der beiden. Ihr Bruder – letzter Eindruck – zieht sich weinend in sein Zimmer zurück und taucht in den letzten Abschnitten nicht mehr kenntlich auf. Sie scheint eine Teilsouveränität, wenn nicht ihre ganze, zurückgewonnen zu haben. Ihre Würde als Mensch. Ihre Sehnsucht nach Glück bleibt. Ihre „Glückswürdigkeit“ (Kant) scheint sie in tendenziell erzielter moralischer Selbstbestimmung erreicht zu haben. Ob sie tatsächlich ein Mutter- und Eheglück in der Fluchtlinie des Textes faktisch schon erreicht hat, bleibt meiner Ansicht nach, entgegen ihrer ausdrücklichen, aber eben nur punktuellen Behauptung, völlig offen. Dieses Mutter- und Ehefrauenglück (,das ihrer früheren Einstellung geradezu spießig entgegensteht,) kann eine bloße Einbildung sein. Ihre Selbstbestimmung wäre dann nur keimhaft angelegt und wäre einer wahnhaften Bewusstseinsspaltung, einem partiellen Verstandesverlust gewichen. Von da her ließen sich die vielfältigen Traumeinsprengsel und unterschiedlichen, in verschiedene Richtungen weisenden Motivverschränkungen etwas besser erklären. Vor allem der faktische Schluss der letzten Abschnitte des Lumpenromans wäre dabei heranzuziehen. Dies noch genauer aufzuzeigen mag allerdings erst demnächst, zumindest versuchsweise nachgeholt werden.
LR 2810 / WERTUNGSFRAGEN UND LESEMÖGLICHKEITEN
Ist der Lumpenroman denn nun, kritisch gesehen, ein gutes oder aber ein schlechtes Buch? Oder liegst Du mit Deinem Urteil irgendwo und irgendwie dazwischen?
Um angemessen bewerten zu können, bevorzuge ich gerade in diesem Fall eine Art idealtypisches Lesen. Idealtypisches Lesen zieht im Roman angelegte Linien – um erhellender Vergleichbarkeit willen – in idealtypischer Reinheit durch und konfrontiert diese mit dem Faktischen der konkreten Romanerzählung selber.
Wenn ich den Lumpenroman vielfältig idealtypisch lese, komme ich zu Ergebnissen, die mir unter Umständen dazu verhelfen, ein differenziertes Gesamtbild festzuhalten.
A Der ethische Weg Biancas: Biancas Weg in ein moralisch-praktisch selbstbestimmtes Leben.
B Der Einbürgerungsweg Biancas (ihr Weg ins Bürgerliche – oder ins Philiströse, Spießige?):
Ehe, Mutterschaft, bürgerliche Wohlanständigkeit (Resozialisierung aus eigener Kraft)
C Der Dante-Weg: Hölle (Inferno) – Läuterungsberg (Purgatorio) – noch nicht: das Paradies (Paradiso), wohl aber ein Ausblick darauf (?)
D Der religiöse Weg: der Weg der reuigen Sünderin
Brechung des Eigenwillens, Entbergung der verborgenen Heiligkeit auch noch in der zum Menschen unabdingbar gehörigen Sündhaftigkeit (des In-sich-selbst-Eingekapseltseins)
E Bianca und Maciste: zwei komplementäre Biographien
(jeweils ein initiales Autounglück mit eingreifenden Folgen: a) das eigene Macistes, b) das tödliche der Eltern …)
F Verlaufsform, Fortgang wie in einer Romanze
der musikalischen Romantik (C. M. v. Weber „Freischütz“ / Romanze des Ännchen) oder Heinrich Heines („Romanzero“): Spannungsaufbau, Zuspitzung und glimpfliches (?) Ende
G Alles ist ein Gleichnis. Aber wofür?
Unterhalb dieser potentiellen Großgleichnisebene sind angesiedelt:
a) Unterwassermetapher
b) Hell-dunkel-Metaphorik und -polarität
c) Blind-sehend-Metaphorik und -polarität
d) Das in der eingeschränkten und einschränkenden Perspektive der Icherzählerin Wahrnehmbare, Wahrgenommene und Ausgelassene
e) Das Extraterrestrische (ob religiös gemeinte oder ob SF-Anspielung wird offengelassen)
Die idealtypischen Lesarten denke ich mir mit Bezug auf den Lumpenroman jeweils auf gleichformatige einzelne Folien gemalt. Wenn ich diese übereinander halte oder lege – und dazu lädt der Roman als Ganzes mich von seiner Machart her ein – überlappt und überlagert sich so einiges, ein komplexes Gebilde entsteht und ein einfaches wertendes Urteil wird fast unmöglich. Zumal keine dieser weitergezogenen Linien den konkreten Romanbefund ganz trifft und in der Verbindung und Konkurrenz mit anderen „Linien“ Ambivalenzen schafft.
Wenigstens eines kann ich aber festhalten. Ich habe solche Vielfältigkeitsgebilde ausgesprochen gerne, zumal in unserer gegenwärtigen, doch wohl mindestens ähnlich komplexen Weltsituation.
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(Den ebenfalls fertigen, fürs erste abschließenden Beitrag schicke ich morgen früh.)
FETZEN 111
Zum faktisch angebotenenen Schluss des Lumpenromans
Im faktischen, im konkreten Schluss des Lumpenromans (auf den Seiten 109 und 110) ist keinerlei Rede vom Erreichen des schon ganz zu Anfang von Bianca als erreicht herausgestellten Resultates, einer persönlichen Ehe und Mutterschaft. Mit der Nacht nach dem endgültigen Ausbleiben der Freunde des Bruders (letzter Abschnitt S. 109) setzt der Schluss im engeren Sinne zeitlich markant ein.
Hier scheint einerseits die Rückkehr Biancas in ein menschliches Maß, in ein Allgemeinmaß des Tag-und-Nacht-Erlebens stattzufinden: der natürliche sonnenphasenbedingte Wechsel von Hell und Dunkel setzt wieder ein, wird schlagartig wiedergewonnen. Es ist wie die Rückkehr aus einer Saison in einer immerdar gleißend hell bleibenden Hölle, aus einer menschenfernen Unwirklichkeit in eine menschlich-allzumenschliche Schwäche und nachtgemäße Müdigkeit. Merkwürdig, dass hier im Deutschen der Ausdruck „schwache, müde Geschöpfe“ steht, als dürfe hier atheismusfern ein Schöpfer mitgedacht werden.
Mit der Rückkehr in ein menschliches Maß scheint für Bianca ihre Einbürgerung in ein menschenwürdigeres Leben wiederzubeginnen. Oder allererst zu beginnen?
Am Ende steht also ein neuer Anfang von etwas; womöglich von einem künftig auf Dauer gestelltem Ende (Hochzeit, Mutterschaft, Ehe), von dem am Anfang des Romans kurz und formelhaft die Rede war, das aber am Ende mit keinem einzigen Wort mehr gewürdigt wird. Das ist merkwürdig. So ist es zu erklären, dass sich beim Leser der Verdacht einstellt, hier sei von vornherein wahnhaftes Wunschdenken mit im Spiel gewesen. Andererseits wird deutlich, dass der Lumpenroman unser Augenmerk novellistisch auf eine ganz bestimmte Lebensphase gerichtet hat. Für eine Novelle und zugleich für Roberto Bolaños Erzählverfahren durchaus typisch wird das, was kommt, zunächst unpräzise angedeutet und am Ende dann doch wieder irritierend ausgespart.
Der allerletzte Abschnitt des Romans handelt von den tagelangen Erwartungen einer „schlechten Nachricht“, des Gegenteils einer frohen Botschaft, von ihrer „Angst“ bei Tag und Nacht. Bianca ist tagelang darauf eingestellt, aus den Medien den Tod Macistes zu erfahren und in ihnen das Suchbild seiner Mörder zu sehen. Dass sie in diesem Falle Anstifterin gewesen wäre, wird von ihr reuelos ausgespart. Aber die eingestandene „Angst“ ist verräterisch. Andererseits: Durch ihre eigene Drohung mit der Polizei hatte sie ihre vorausgegangene Anstiftung selber wieder konterkariert, als würde sie insgeheim mit der Schwäche des Bolognesers und des Libyers rechnen, was aber zuletzt gar nicht mehr in ihr Bewusstsein dringt.
Es ist so, als hielte das für Biancas Gefühl aus dem Weltraum stammende, irgendwie im Niemandsland zwischen zwei Planeten anzusiedelnde, geräuschlose „Gewitter“ immer noch an. Begegnet ist es uns in Biancas Erzählen schon einmal auf der Seite 19, im 2. Kapitel: „Als ich aufwachte, schlief mein Bruder in seinem Sessel, und auf der Mattscheibe war nur ein graues Meer zu sehen, graue und schwarze Blitze, als würde sich Rom ein Gewitter nähern, und niemand außer mir könnte es sehen.“ Ganz am faktischen Schluss ist diese Konstellation wieder da: Bianca, die ganz allein, wie eine zweite Kassandra, dieses stumme Weltengewitter noch wahrzunehmen meint. So lange jedenfalls, wie es ihr noch möglich erscheint, dass die Fotos als Suchbilder von Mördern noch auftauchen können. Von einer objektiv unerfassbaren (nur für Bianca gelassenen?) „Lücke“ im interstellaren Raum ist als reale Möglichkeit die Rede (von einer „Lücke, die der Teufel ließ“?), von einer „anderen Welt“ (ob nun metaphysisch-religiös oder SF-mäßig akzentuiert, bleibe dahingestellt), aus der das Gewitter (gleichsam wie eine Botschaft) herstamme.
Merkwürdig auch die allerletzte Wendung (S.110f): „wo es eine Lücke gab, die meine Lücke, und einen Schatten, der mein Schatten war.“
Meint das erdüberschreitende Individualisierung – fast so wie in Kafkas Parabeln „Eine kaiserliche Botschaft“ und „Vor dem Gesetz“ ? – Paraphrasiert also etwa so: Diese „Lücke“ im Weltall hat einen Bezug zu Dir, diese Lücke ist nur die Deine. Der Ursprung Deines Ortes hier in dieser Welt ist nicht von dieser Welt. Nach dem tödlichen Unglück Deiner Eltern ist ein schwerer Schatten auf Dein Leben gefallen. Von diesem Schatten hast Du Dich zu befreien gesucht, indem Du Dich von Deinem eigenen Schatten gleichsam getrennt sahst: es gab fortan nur lichten Tag und lichte Nacht für Dich und damit Schattenlosigkeit. Die fortwährende Helligkeit war die Kehrseite Deiner eigenen Schattenlosigkeit: Du lebtest eine Zeitlang in der Trennung von Deinem eigenen Schatten. –
Wenn man an dieses Motiv vom Schattenverlust denkt, wäre das im faktischen Ende scheinbar ausgesparte Thema „Ehe“ vielleicht doch wieder im Spiel. – Aber hat ein lateinamerikanischer Schriftsteller wie Roberto Bolaño die Verquickung von Schattenlosigkeit und gefährdeter Lebenseinbürgerung durch Ehelosigkeit, wie sie in Hugo von Hofmannsthals „Frau ohne Schatten“ gleichnishaft dargestellt wird, wirklich gekannt?
Ein wenigstens punktueller Vergleich sei gewagt, auf den man nicht so leicht kommen wird, des „Lumpenromans“ mit einem Gedicht, mit dem Gedicht „Frühlingsfahrt“ bzw. „Zwei Gesellen“ von Joseph Freiherr von Eichendorff. Das Wichtigste, was in diesem Gedicht vorkommt, kommt irgendwie auch im „Lumpenroman“ vor; es gibt inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeiten, ganz gewiss ohne dass dieses Gedicht gewollter Bezug oder Vorlage gewesen wäre, und es ist doch alles ganz anders. Zwei undeutlich, nur unterschwellig, und gegenläufig ambivalent, bewertete alternativ erscheinende Lebensweisen und ein Drittes als Horizont menschlicher Unverfügbarkeit. Bianca entgeht anscheinend ganz zuletzt dem abgründigen Scheitern des einen – und ihr Weg in die seelische Verwahrlosung wäre ohnehin kein bunt verlockend abenteuernder gewesen. Aber mündet ihr Leben in die Verspießerung bzw. in das unheimliche Anheimeln familiären Behagens? Eine religiös konnotierte Linie (vgl. die Schlussstrophe des Eichendorff-Gedichtes) glaubt man in Brüchigkeit auch im „Lumpenroman“ verfolgen zu können, aber keineswegs deutlich und irgendwie halbherzig, weil ein sich seiner selbst gewisser Glaube auch nicht mehr möglich zu sein scheint. Die zwei bzw. drei bei Eichendorff angebotenen, angesprochenen Wege sind hier im „Lumpenroman“ allesamt mit skeptischem Fragezeichen versehen, die Wege sind mehr denn je ineinandergeschlungen, in größer gewordener Ratlosigkeit. Das Rätsel des menschlichen Daseins wird ernst genommen und unverklärt in dem vielleicht noch verbliebenen Rest von Zukunftsoffenheit dargestellt. Ob dies der Hauptgrund ist, warum mir die Lektüre des „Lumpenromans“ so sehr zugesagt hat und noch zusagt?
Hier am Schluss – zur Überprüfung – noch der volle Wortlaut des von mir zur vergleichenden, textanalytischen Erkenntnisfindung herangezogenen Eichendorff-Gedichtes:
Die zwei Gesellen
Es zogen zwei rüstge Gesellen
Zum erstenmal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten, trotz Lust und Schmerz,
Was Rechts in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorüber gingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. –
Der erste, der fand ein Liebchen,
Die Schwieger kauft’ Hof und Haus;
Der wiegte gar bald ein Bübchen,
Und sah aus heimlichem Stübchen
Behaglich ins Feld hinaus.
Dem zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund,
Verlockend’ Sirenen, und zogen
Ihn in der buhlenden Wogen
Farbig klingenden Schlund.
Und wie er auftaucht’ vom Schlunde,
Da war er müde und alt,
Sein Schifflein das lag im Grunde,
So still wars rings in die Runde,
Und über die Wasser wehts kalt.
Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir;
Und seh ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ uns liebreich zu Dir!
Die hier ausführlich geführte Diskussion nehme ich erst jetzt zur Kenntnis. Einiges habe ich gelesen, vieles nur überflogen. Meine Lektüre des Lumpenromans ist noch recht frisch. Deshalb möchte ich hier nur einiges anführen, was mir zu denken gegeben hat:
1. Der Kurzroman ist Lautaro, dem 1990 geborenen Sohn, und der später geborenen Tochter Alexandra gewidmet. Damit ist etwas sehr Persönliches angesprochen. In seinem letzten, dem mexikanischen Playboy gegebenen Interview von 2003 antwortete Bolaño auf die Frage, was denn sein Vaterland (patria) sei, mit der Entschuldigung, dass er etwas „kitschig“ werde, dass nämlich seine beiden Kinder seine einzige Heimat für ihn bedeuten. (¿Qué es la patria para usted? – Lamento darte una respuesta más bien cursi. Mi única patria son mis dos hijos, Lautaro y Alexandra. Y tal vez, pero en segundo plano, algunos instantes, algunas calles, algunos rostros o escenas o libros que están dentro de mí y que algún día olvidaré, que es lo mejor que uno puede hacer con la patria.)
2. „Lumpen“ ist ein in der spanischen und lateinamerikanischen Diskussion überaus geläufiger Ausdruck der linken bzw. marxistischen Analyse der sich im Neoliberalismus einstellenden Bedingungen des Abstiegs breiter Gesellschaftsschichten, die sich am deutlichsten in der großen Jugendarbeitslosigkeit bemerkbar machen (In ihrem Interview mit sich selbst beantwortet Bianca die Frage, welches Land sie denn sein wollte, wenn sie eines wäre, mit Algerien, einem Land mit über 25% Arbeitslosigkeit der unter 20-Jährigen (in Städten über 30%); mehr als 75% aller Arbeitslosen jünger als 30 Jahre). Im Hintergrund steht, was Marx zum „Lumpenproletariat“ ausführt: kein Klassenbewusstsein, Anfälligkeit für vielfältige Ausdrucksformen von Gewalt. Im Roman der zweimalige Ausruf „Faschismus oder Barbarei“, als wäre der da angebotene Faschismus nicht die Barbarei.
3. Maciste, eine erfolgreiche und befreite „Gladiatoren“-„(Lumpen-)Proleten“-Figur, seine Blindheit, sein „klösterliches“ Umfeld in seinem Haus und die Art, wie ihn Bianca erlebt, legen Assoziationen mit Heiligenfiguren nahe, zu denen in heidnischer Ikonographie auch der „blinde Seher“, wie er in Homer oder Teiresias Tradition wurde, gehört. Bianca nimmt Maciste als „hochgewachsen und breit“ wahr – vom Alter her könnte er ihr Vater sein (lat. proles = Nachkomme; der Proletarier hat als einzigen Besitz seine Kinder); sie kann ihn kaum umarmen; er trägt sie auf seinen Armen „wie im Fluge durch die Dunkelheit“ (Die katholische Heiligenverehrung stellt den Hl. Christopherus als Riesen dar, wenn er jemanden trägt. Bianca erzählt einen Traum, in dem sie in einer Wüste einen großen Papagei auf ihren Schultern durch die Wüste tragen muss). Der blinde Seher: Maciste ist blind und bewegt sich, als sehe er, während Bianca in der Helle lebt, aber sich als blind bezeichnet (S. 33). Auf S. 85 fantasiert sie ihn als „Wahrsagemaschine“, an deren Worte sie sich wie an einen Schlüssel oder eine Brücke erinnert. Denn nähme Maciste ihr Gesicht wahr, sähe er eines, das alles erwartet, „vom liebevollen Wort bis hin zu einer gewichtigen Erklärung“. Über ihn führt Biancas Emanzipation und Schattenbildung, und zwar in der „Lücke“, die „meine Lücke“ war, aber wie aus einer anderen Welt stammt. – Ihr einleitend erwähntes Mutter- und Verheiratetsein scheint mir nur ein Indiz dafür, dass das Leben weitergeht. So wie Bolaño selbst seine Kinder als seine einzige Heimat ansah.
@ Frank Helzel
Vielen Dank für diesen interessanten, sachlichen Beitrag!