Prophezeiungen

Auxilio Lacouture ist erschöpft, von Carlos Coffeen, von Orestes und Erigones Geschichte, von ihrer eigenen Geschichte und den Jahren, die ihr noch bleiben, und weil dort in ihrem Schiff in der Zeit, auf dem Frauenklo der Fakultät für Philosophie und Literatur, […] der Mond […] eine Fliese nach der anderen dahinschmelzen [läßt], bis sich ein Loch öffnet, durch das Bilder und Filme kommen, die von uns handeln, von den Büchern, die wir lesen, und von der lichtgeschwindigkeitsschnellen Zukunft, die wir nicht sehen können. Also schläft sie fortan, egal wo sie sich befindet, und sondert im Traum, auf einem hohen Berg im Himalaya sitzend, eine lange Reihe ziemlich merkwürdiger Prophezeiungen über bevorstehende Reinkarnationen von Dichtern und Schriftstellern ab – bis schließlich ein tropfender Wasserhahn an einem Handwaschbecken in der Frauentoilette des vierten Stocks sie ins Leben zurückholt.

2 Responses to “Prophezeiungen”

  1. Günter Lansberger

    Nur um versuchsweise genau zu sein. Der Himalaya wird zwar ganz zuletzt erwähnt, nachdem das Erzählerinnen-Ich „auf verschneiten Höhen“ sich gleichsam in „eine Art Yeti, eine Schneefrau“ verwandelt sieht, zuvor ist aber fast immerzu von den Kordilleren und den Anden die Rede, vom Popocatepetl und dem Ixtaccíhuatl. Immerhin geht es vordringlich um besonders eisige Regionen. (Um Eis- und Schneewüsten.) Und zwar weltweit. Von da her bekommt auch die von einem Bilde Caspar David Friedrichs her gewonnene Metaphorik (S.144) ihren Sinn und ihre Grundlage. Wahrscheinlich wird auf eines seiner (CDFs) berühmtesten Bilder angespielt, das ein im Eismeer gescheitertes Schiff (!) zeigt und den Titel „Das Eismeer“ bzw. „Die gescheiterte Hoffnung“ erhalten hat. (Wobei wir wieder bei Andreas Gierths These von der seit etwa zwei Jahrhunderten grundlegenden Bedeutung des Verlusts des Glaubens an die Geschichte angekommen sind.)

  2. Günter Landsberger

    Wie wird es mit der Rezeption mehr oder minder bedeutender, schon heute meist geschichtlich gewordener europäischer und lateinamerikanischer Autor…n des 20. Jahrhunderts innerhalb der – großzügig gesagt – nächsten 171 – 200 Jahre bestellt sein und weitergehen? Da diese ernsthaft stellbare Frage ohne eine gewisse Spökenkiekerei wohl kaum solide beantwortet werden kann, kommt es im 13. Kapitel über mehr als vier Seiten hinweg zu einer stolzen Reihe von unsere Phantasie heftigst in Gang setzenden Prognosen und Prophezeihungen. Viel Spiel und Spaß sind wohl auch dabei, obwohl man sich immer auch fragen kann, was muss inzwischen Schlimmes oder Gutes passiert sein, dass der oder die jetzt in so hohem oder so minderem Ansehen stehen. Die spielerische Vorwegnahme einer real vorstellbaren bis abstrusen Rezeptionsgeschichte suggeriert jeweils einen parallelen oder konträren, immer aber irgendwie grundierenden „realen“ Geschichtsgang, der hier als solcher – äußerst indirekt – nur angedeutet wird.
    Es fällt auf, dass diese „Prophezeihungen“ das Jahr 2666 nicht erreichen, ja, weit unterschreiten. Das äußerste Datum ist 2171, ein (gezielt zufällig?) mit einem Surrealisten verknüpftes: „André Breton wird um 2171 den Spiegeln (!, GFL) entsteigen.“ Ein anderer französischer surrealistischer Autor wurde vorher schon mit dem Jahr 2101 verknüpft: „Paul Eluard wird im Jahre 2101 ein massenhaft gelesener Dichter sein.“ Dieses Jahr 2101 scheint merkwürdigerweise auch wichtig für die Rezeption der deutschsprachigen Literatur zu sein; wie aus den folgenden zwei prognostischen Notaten im Verbund zu entnehmen ist: „Im Jahre 2101 wird sich Thomas Mann in einen ecuadorianischen Apotheker verwandeln.“ (S.141) + „Kafka wird im Jahre 2101 in allen Kloaken (!, GFL) und unterirdischen Kanälen Lateinamerikas gelesen werden.“ (S.142) Zudem: Parallelformulierungen zu verschiedenen Jahren: „Arno Schmidt wird 2085 der Asche (!, GFL) entsteigen.“ + „Paul Celan wird um 2113 der Asche (!, GFL) entsteigen.“ (S.142)
    Ja, Autor…en der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts werden in dieser phantasievollen Prognosenreihe neben den Lateinamerikaner…n vielfältig genannt, gerade auch bedeutende deutschsprachige.
    Zum ersten Mal aber im ganzen „Amuleto“-Roman kommen nicht mehr nur vordringlich Lyriker… vor, sondern auch Erzähler… von Prosawerken, die wie Anton Tschechow (S.143) indessen zusätzlich ebenso bedeutende Dramatiker zu sein vermögen.

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