Sebastian und Sebastian

Sebastian und Sebastian

Im Haus von Maria Canales trifft Urrutia deren Sohn, der wie er selbst Sebastian heißt. Allein dieser Umstand ist Grund genug, dass er dem Jungen eine gewisse Aufmerksamkeit entgegenbringt. Als er das Kind im Gesicht berührt, spürt er dessen Kälte, und ihm kommen fast die Tränen. An einem anderen Abend taucht der kleine Sebastian genau in dem Moment in seinem Sichtfeld auf, als die Gastgeberin Urrutia zum ersten Mal nicht bei seinem Vornamen nennt, sondern ihn „Vater“ nennt, also seinen Status als Geistlicher hervorhebt. In seiner Interpretation wechselt sie damit die Rolle, sie wird zur Beichtenden. Erstaunlich ist, dass dieses Zusammenfallen der beiden Ereignisse in ihm etwas auslöst, dass ihn dazu bringt, das Haus von Maria Canales unverzüglich, fast schon fluchtartig zu verlassen und nicht wiederzukehren.

Indem er dies tut, wendet er sich auf eine gewisse Weise auch von sich selbst ab – der andere Sebastian mag noch ein Junge sein, aber gerade sein junges Alter, in dem seine Identität noch nicht so sehr ausgebildet ist, macht ihn zur idealen Projektionsfläche.

Das Selbstbild Urrutias, der sich vor allem als Dichter sieht und erst in zweiter Instanz als Geistlichen (nicht umsonst ist er immer wieder davon überrascht, dass er seine Soutane trägt und kann sich oft nicht einmal daran erinnern, sie angezogen zu haben!) wird von Maria unsanft korrigiert. Und das in dem Moment, als er ihr gerade sein Innerstes als Dichter ausschüttet, als er von dem einsamen und steinigen Weg spricht, den jeder zurücklegen muss, der sein Leben dem Schreiben widmet! Kein Wunder, dass Urrutia wiederholt betont, dass Maria keine Ahnung hat und nicht weiß, wovon sie spricht.

Schon unmittelbar bevor er von dieser Flucht erzählt, springt Urrutia kurz in die Gegenwart zurück, zum nahenden Tod – eine antizipierende Übersprungshandlung. Denn es ist immer noch besser, an den Tod zu denken als an die Wahrheit.

4 Responses to “Sebastian und Sebastian”

  1. Günter Landsberger

    Fast wäre ich ja jetzt ehrgeizig und würde einen längeren Aufsatz als Antwort schreiben. Vielleicht reicht es aber auch, wenn ich mich mit einer Reihe von Andeutungen begnüge?
    Das (doppelgängerische oder narzisstische oder wahlverwandte oder aber latent päderastische) Sebastián-Sebastíán-Motiv zählt als scheinbar neu einsetzendes Thema – in seiner Umsetzung ab Seite 133 – ziemlich sicher zu den aufschlussreichsten Motiven des ganzen Buches. Man könnte zwar überlegen, ob die über den gesamten Kurzroman hin verstreuten Nennungen der Namen a) von D’Annunzio (S.40), b) von Debussy (S.133), c) von Sebastián (S.10 + S.133, S.135, S.138, S.140, S.141 (o.N.), S.148, S.150; S.151ff.“Kinder“(o. N.n.g)) nicht auch auf das seinerzeit skandalumwobene und kirchkatholisch indizierte lyrisch-dramatische Werk von Gabriele D’Annunzio mit der Musik von Claude Debussy „Das Martyrium des hl. Sebastian“ verweisen sollen, demgegenüber RBs „Chilenisches Nachtstück“ als eine interessante Kontrafaktur desselben gesehen werden könnte. Aber die Stelle auf Seite 135 ist, wenn man sie im Kontext behutsam genug liest, für sich schon jede weitere genauere Betrachtung wert.
    Nur ganz zu Anfang auf Seite 10 und bei der erneuten Selbstvorstellung gegenüber María Canales (S.150) wird der volle Name „Sebastián Urrutia Lacroix“ genannt. Sonst als ganzer im ganzen Buch nicht. Der Vorname isoliert, allein – (der von Urrutia Lacroix) – schon gar nicht. Es gibt anscheinend niemanden, der U. L. offensichtlich so nahesteht, dass er ihn mit seinem Vornamen Sebastián anredet. Sogar seine Mutter, die ihn, seit er mit 14 ins Priesterseminar eingetreten ist, nur noch siezt und mit „Padre“ anredet (S.11), wird ihn nie mehr bei seinem Vornamen angeredet haben. Sind Kinder, insbesondere männliche, für ihn auch deshalb eine potentielle, wiewohl lange abgewehrte Verlockung (S.28f., S.30, S.106; dann aber etwas offener ab S.135), weil er so früh schon erwachsen sein musste, seine Pubertät gleichsam übersprang und das Zölibat als Schutzwehr und als Tarnung geheimster Regungen und Antriebe nutzte?
    In was für einer Einsamkeit hat er jederzeit gelebt!
    Und: War er nicht selber – bösartig gesprochen – ein früh“vergreister Grünschnabel“, ohne auch als schließlich Jahrzehnte älter Gewordener jemals wirklich die Weisheit des Alters erlangt zu haben?

  2. Thorsten Krämer

    In dieser Reihe der Andeutungen fehlt freilich noch (weil vielleicht zu offensichtlich?) ein Hinweis auf die Bedeutung, die der Hl. Sebastian für die schwule Kultur hat…

  3. Günter Landsberger

    Das ergibt sich auch aus dem Duktus des von mir zitierten D’Annunzio-Debussy-Werks. Wie ist es mit Georg Trakls „Sebastian im Traum“? (Nun gut, in Salzburg in der Linzergasse gibt es auch den alten Sebastiansfriedhof und die Sebastian-Kirche.)

  4. Günter Landsberger

    Noch mehr Anmerkungen zum obigen Beitrag:
    a) Nie – im ganzen Buch nicht – wird Sebastián Urrutia Lacroix von irgendjemanden mit seinem Vornamen angeredet, auch von María Canales nicht. (Allenfalls bei seiner Mutter mag dies bis zu seiner Rückkehr aus dem Priesterseminar erschließbar anders gewesen sein.)
    b) Zu S.135: U.L. weint hier wirklich, nicht nur fast.
    Ist das nicht die einzige Stelle im ganzen novellistischen Kurzroman, wo dies der Fall ist?
    Ihm kommen die Tränen, weil ihm etwas (selten genug!) zu Herzen geht.
    c) Was geht ihm zu Herzen? Dass das Kind, der kleine Sebastián (2-3 Jahre alt), der ein „dünnes Gesichtchen“ hat, ihn „mit großen blauen Augen“ ansieht, nachdem er ihn dem indianischen Kindermädchen erst aus den Armen genommen und dann gefragt und unbeirrbar weitergefragt hatte, wie es ihm denn ginge; „mit einer großen Zärtlichkeit“ (!) „,die“ ihm (U. L.) „selbst bis dahin völlig unbekannt war“. Den Nachklang dieser Szene findet man noch auf Seite 141: „Ich schrieb ein Poem, besser gesagt, ich versuchte es. In einer Strophe erscheint ein Kind mit blauen Augen, das durch eine Fensterscheibe starrt.“ (…) „Dann ging ich wieder ins Haus der María Canales.“
    d) Nicht nur des Alkohols wegen (S.131), vor allem des homonymen Kindes, „seines kleinen Homonyms“(S.140) wegen, dem er auch jegliche Ähnlichkeit mit den leiblichen Eltern entschieden nicht zuerkennt ((S.133), besucht er, wohl häufiger, als er in seiner verqueren Lebensrechenschaft es zugibt, die Abende bei María Canales. Ist die Literatur auch ihm letztlich nur „Vorwand“ (S.31) für anderes?
    e) Literatur als Vorwand? – So wie auch sein Priestertum fast als Begründung für seine Annäherung an das Kind hätte herhalten müssen? „Ich wollte sagen, ich sei Priester.“ (S.135) „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.“ – Ein überliefertes (hier nur suggeriertes) Wort Jesu als Rechtfertigung? Und das (oder der?) Zölibat als Vehikel zur Verharmlos(ig)ung nach außen hin? Und dennoch: „Aber etwas hinderte mich, vielleicht das Gefühl der Lächerlichkeit“ (und danach gleich wieder Abwiegelung durch beschwichtigende Ablenkung auf den angeblichen Nationalcharakter: „das Gefühl der Lächerlichkeit, jenes Gefühl, das sich stets als erstes in uns Chilenen regt“).
    f) Urrutia Lacroix verschwindet nicht deswegen so plötzlich, weil er sein Selbstbild als Dichter erschüttert sieht, sondern weil er befürchtet, dass der wahre Sinn seiner ihm herausgerutschten Aussage „ich sagte, wichtig sei allein das Leben, nicht die Literatur“ (S.145), von María Canales schon früher „geahnt“, nun aber richtig durchschaut zu werden drohte. Nun erst geht er nicht mehr hin. Zuvor hatte der sich urplötzlich meldende andere Antrieb ihn immer wieder dazu hinreißen lassen.

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