Unser Teil der Traurigkeit
Fotos zeigen einen schmalen, nervös wirkenden Mann mit dunklem Kraushaar, zu grosser Brille und stets mit Zigarette. Er ist ein homme de lettres besonderer Art – scharfzüngig, provokant, ausgestattet mit skurrilem Humor und einer Biographie, als hätte Roberto Bolaño sie eigens erfunden: Geboren 1953, aufgewachsen in Chile, später in Mexiko. Dort erste poetische Gehversuche und Bekehrung zum Trotzkismus. Dann, 1973, kurzzeitige Rückkehr nach Chile. Er erlebt den Putsch, kommt in Haft und wieder frei, erneut verlässt er das Land, diesmal für immer. Seit 25 Jahren lebt er in Spanien, derzeit in einem kleinen Ort bei Barcelona. – Zum Arbeiten braucht er drei Dinge: Ruhe, Kamillentee und natürlich Zigaretten. Fazit, vorläufig: zehn Bände Prosa, sieben Bände Lyrik. Auf Deutsch erschienen bisher zwei Bücher – «Die Naziliteratur in Amerika» und «Stern in der Ferne». Fast jeder neue Roman sorgt für Aufregung, häufig für Empörung, auch fast jedes Interview. Dieses Gespräch bat er per Mail zu führen. Wenn er rede, sei er ein Dummkopf, meinte Bolaño zur Begründung, wenn er schreibe, nicht gar so sehr.
Herr Bolaño, wodurch wurden Ihre Persönlichkeit und Ihre Haltung als Schriftsteller geprägt?
Vermutlich durch meine Lektüre. Lesen ist für mich seit je Luxus gewesen und bald eine Sucht. Meine Jugend verlief, um es mild auszudrücken, unregelmässig. Mit fünfzehn zog ich nach Mexiko, mit sechzehn ging ich nicht mehr zur Schule. Mit siebzehn war ich im Begriff, verrückt zu werden. Das einzig Beständige in jener Zeit ist, paradox genug, die Literatur gewesen, das Unsicherste überhaupt. Bücher besassen einen ganz besonderen und dazu geheimen Glanz. Zu lesen war, als sei man unermesslich reich und niemand wüsste davon. Ein deutscher Minnesänger hat das so ausgedrückt: Er reite in einer Rüstung in den Krieg, aber darunter trage er das Kleid eines Narren.
1973 gingen Sie wieder nach Chile; kurz darauf putschten die Militärs. Was dachten, wollten und taten Sie als Zwanzigjähriger?
Der Tag des Putsches war für mich ein eher tragikomischer Tag. Ich meldete mich als Freiwilliger in einer kommunistischen Zelle, obwohl ich nicht mit den Kommunisten sympathisierte. Sie befahlen mir, eine verlassene Strasse zu überwachen, und gaben mir ein Kennwort, das ich nach wenigen Minuten vergessen hatte. Sie wollten dort mit Molotowcocktails eine Fussgängerbrücke in die Luft sprengen. Das hätte geklappt, wenn die Brücke aus Holz gewesen wäre. Die hier war jedoch aus Eisen. Kurz: lauter Unsinn. Zwei Monate später bin ich im Süden des Landes verhaftet worden, verbrachte aber nicht ein halbes Jahr im Gefängnis, sondern nur acht, neun Tage. Man verdächtigte mich, ein mexikanischer Terrorist zu sein. Ich sprach damals wirklich wie ein Mexikaner und benahm mich auch so.
Worin besteht für Sie und Ihre Generation die Bedeutung des Putsches?
Aus zeitlichem Abstand betrachtet, symbolisierte der Putsch vielleicht das Ende der revolutionären Utopie in Lateinamerika. Seit damals ist da nur noch ein Loch voller Schmerz und Verzweiflung.
In Ihrer Erzählung «Silva das Auge» heisst es: «Vor der Gewalt, der wirklichen Gewalt, kann man nicht fliehen, wir zumindest können es nicht, geboren in Lateinamerika, in den Fünfzigern, die wir um die zwanzig waren, als Salvador Allende starb.» Ist die Gewalterfahrung zum Trauma geworden?
Gewalt als Schicksal. Jeder Tod ist doch ein Akt extremer Gewalt, selbst wenn einer im Schlaf stirbt. Natürlich möchte niemand gefoltert, verbrannt, vergewaltigt sterben. Ein Krankenhaus, Morphium, langsam in den Schlaf gleiten – das ist schon besser. Am besten wäre es, gar nicht zu sterben.
1974 sind Sie emigriert, erst nach Mexiko, bald nach Spanien. Was ist das – «Exil»? Und wovon haben Sie anfangs gelebt?
Abgesehen von drei oder vier Tätigkeiten, die Anstand und Erziehung mir verboten, habe ich so ziemlich alles gemacht. Ich war Müllfahrer und Nachtwächter, Hafenarbeiter und Haustürvertreter für katalanische Enzyklopädien. Über das Wort Exil kann ich wenig sagen. Es ist so unbeständig wie Gedächtnisschwund. An manchen Tagen würde ich beim Aufstehen gern feststellen, dass ich alle Erinnerungen verloren habe. Doch ich besitze ein sehr gutes Gedächtnis.
«Ich hatte ein Land verloren, / aber einen Traum gewonnen», schrieben Sie. Fanden Sie eine neue Heimat – in der Sprache?
Eine Zeitlang glaubte ich tatsächlich, die einzige Heimat eines Schriftstellers sei die Sprache. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Für mich zumindest ist die spanische Sprache nicht die Heimat. Vielleicht sind es die Menschen, die einer liebt, in meinem Fall meine beiden Kinder.
Was bedeutet Ihnen der Begriff Vaterland? Sie sollen einmal gesagt haben, Sie seien kein Chilene . . .
Nein, das habe ich nicht gesagt. Es stimmt, nach so vielen Jahren in Spanien und nach der Heirat mit einer Spanierin könnte ich schon lange spanischer Staatsbürger sein. Aber ich hasse bürokratische Formalitäten. Ausserdem akzeptiere ich meine chilenische Nationalität mit fast christlicher Resignation. Ich fühle mich nicht als Chilene, ohne Zweifel, aber ich bin Chilene. Und dies zu wissen, macht demütig – mich zumindest. Ich wäre lieber Belgier und reich geworden. Oder ein Jude aus New York und intelligent.
INSELBEWOHNER
Wie ist die Stimmung im heutigen Chile? Was denkt die Mehrheit über die Vergangenheit? Kommt Ihnen bei einem Besuch manchmal das Gefühl, die Figuren Ihrer Bücher laufen dort frei herum?
Ja, manchmal passiert das. Der kollektive Roman, der von uns allen geschrieben wird, ist in jedem Fall brutaler als die Romane, die zwischen den Seiten eines Buches leben. Ein Buch lässt sich berichtigen. Die Zeit korrigiert es. Die Leser korrigieren es. Aber das, was wir in Ermangelung eines besseren Wortes Wirklichkeit nennen, ist unabänderlich. Ich weiss nicht, ob sich die Chilenen daran gewöhnt haben, mit dem Gespenst Pinochets zu leben. Manchmal glaube ich, Pinochet ist Teil ihrer Melancholie. Die Chilenen haben ja einen Charakter wie Inselbewohner – in diesem zwischen Kordilleren und Pazifik, zwischen Wüste und Antarktis eingezwängten Land. Pinochet ist Teil unserer Traurigkeit und, meine ich, auch unserer Scham.
Bei jedem Besuch gibt es Ärger, Sie provozieren und beleidigen gezielt. Fühlen Sie sich wohl in der Rolle des Provokateurs? Oder ist Ihr Zynismus ein Akt geistiger Notwehr?
Weder das eine noch das andere. Ich versuche nur, ehrlich zu sein. Die Journalisten stellen Fragen, und ich antworte. Einigen Leuten gefallen die Antworten, anderen nicht. In der chilenischen Gesellschaft und vor allem bei denen, die sich ein bisschen Macht angeeignet haben, wird Kritik nur hinter verschlossenen Türen geübt, im engsten Kreis – und auch dort nur halbherzig. Nach aussen hin herrscht Schweigen. Nur nichts sagen. Das ist ein Erbe der Pinochet-Ära, in der nur die Stummen vorwärts kamen (und die Tauben und die Blinden, klar).
Unter welchen Voraussetzungen würden Sie (mit Ihrer Familie) nach Chile zurückkehren?
Ich gehe auf keinen Fall zurück. Meine Kinder sind Katalanen. Würde ich sie nach Chile zerren, würde meine Frau, ebenfalls Katalanin, mir das nie verzeihen. Ein Verbannter in der Familie ist genug.
Sind die Dinge aus der Ferne leichter erkennbar?
Nicht immer. Aus der Ferne werden die Dinge kleiner. Wie auf flämischen Gemälden. Ich denke oft an einen Vers von Auden, in dem es heisst, die flämischen Meister hätten Recht gehabt. Dann beschreibt er ein Gemälde: In einer Ecke stürzt Ikarus mit brennenden Flügeln ins Meer, während die Bauern einfach weiterarbeiten, die Hirten ihre Herde hüten und die Schiffe fahren. Niemand bemerkt, dass Ikarus ins Meer fällt und stirbt. Ich hatte das Glück, bei so manchem Sturz und Fall sehr nahe dran und manchmal sogar Darsteller zu sein. Und dann hatte ich das Glück, zu überleben und mich entfernen zu können, um das Stück in Gänze zu betrachten.
Nach dem Ende der Junta soll es in Chile einen Literaturboom gegeben haben, die «neue Erzählkunst». Was kam dabei heraus?
Ich kenne einige Autoren dieser «neuen Erzählkunst». Einige sind interessant, andere können nicht mal schreiben. Ich glaube, das war nur ein übler Streich des Buchmarkts.
Wie gehen die jungen Autoren mit Pinochet und der Vergangenheit um?
Sie gehen überhaupt nicht mit ihm um.
Der Protagonist Ihres jüngsten Romans, «Nachtstück aus Chile» (aus dem Jahr 2000), ein als Literaturkritiker tätiger Priester des Opus Dei, spricht in einem fünfzig Jahre andauernden furiosen Monolog von der «Mittelmässigkeit und der unendlichen Verzweiflung meiner Landsleute». Ist das Buch eine Abrechnung mit diesen Landsleuten und ihrem Umgang mit der Vergangenheit? Zuerst sollte das Werk ja «Sturm aus Scheisse» heissen.
Dieser Kritiker und Priester ist ein gebildeter Mensch und ein furchtbar schlechter Poet; er erinnert sich an seine Zeit als Marxismusdozent der Militärjunta. Die Geschichte ist, obwohl sie so wirkt, nicht aus der Luft gegriffen. Nach dem Putsch nahm Pinochet tatsächlich ein paar Stunden Marxismus, weil er wissen wollte, mit welcher Art von Feinden er es zu tun hatte.
Wie ist das Buch in Chile angekommen?
Der Roman hat den Chilenen überhaupt nicht gefallen. Sie taten, was man ihnen beigebracht hatte: Sie fühlten sich nicht angesprochen. Sie dachten vermutlich, ich spräche von Peru oder Guatemala. Und dass es sich, wenn von «Santiago» und «Chile» die Rede war, um Druckfehler handeln müsse.
Welche Autoren sind Ihre Vorbilder gewesen? Borges? Cortázar? Nicanor Parra? Neruda? Kafka? In der Erzählung «Drei» schreiben Sie: «Ich träumte, dass es mit der Erde vorbei sei. Und dass das einzige menschliche Wesen, das das Ende betrachtete, Franz Kafka gewesen wäre. Auf einem schmiedeeisernen Stuhl in einem Park von New York sah Kafka die Welt brennen.»
Neruda hat mir nie gefallen. Jedenfalls würde ich ihn nicht als Vorbild bezeichnen. Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen und die Augen vor dem stalinistischen Horror zu verschliessen, hatte meinen Respekt nicht verdient. Borges, Cortázar, Sábato, Bioy Casares, Nicanor Parra, ja, die gefielen mir. Selbstverständlich las ich alle ihre Bücher. Mit Kafka, den ich für den grössten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts halte, hatte ich einige Probleme. Nicht, dass ich bei Kafka keinen Humor entdeckt hätte; den gibt es, sogar jede Menge. Aber sein Humor war von solcher Hochspannung, dass ich es nicht ertrug. Das passierte mir weder bei Musil noch bei Döblin oder Hesse, auch nicht mit Lichtenberg, den ich häufig lese und der mir immer wieder Kraft gibt. Musil, Döblin, Hesse schreiben vom Rand des Abgrunds. Das ist sehr verdienstvoll, denn fast niemand wagt, von dort zu schreiben. Aber Kafka schreibt aus dem Abgrund heraus. Genauer: während er stürzt. Als ich die Herausforderung endlich begriffen hatte, begann ich Kafka aus einer anderen Perspektive zu lesen. Jetzt kann ich ihn mit einer gewissen Gelassenheit wiederlesen und dabei lachen, obgleich niemand mit einem Buch von Kafka in der Hand lange gelassen bleiben kann.
Als 19-Jähriger gründeten Sie in Mexiko die «Infrarealistische Bewegung». Erinnern Sie sich an deren Ziele? Was waren Sie damals: ein frühreifer Bilderstürmer, der Messias einer ganz neuen Art von Literatur?
Ich war vermutlich ein Dummkopf. Und die Infrarealistische Bewegung so was wie Dada auf Mexikanisch. Die einzigen wahren Infrarealisten sind die Gründer der Gruppe gewesen: der Poet Mario Santiago und ich. Jetzt ist Mario Santiago tot, und um meine Gesundheit steht es, sagen wir, auch nicht zum Besten.
Sie schreiben in fieberhaftem Rhythmus, ein oder zwei Bücher im Jahr. Ist es eine Sucht, ein Spiel, ein Feldzug? Gegen wen?
Gegen die Zeit. Wäre die Zeit auf meiner Seite, würde ich sicher weniger arbeiten.
Wie sieht der Tagesablauf aus? Sind Sie ein disziplinierter Mensch?
Ich versuche diszipliniert zu sein, bin es aber nicht. Archivmaterial geht verloren, mein Gedächtnis lässt mich im Stich, Nachschlagewerke finden sich nicht wieder. Im besten Fall arbeite ich ein paar Stunden am Morgen und ein paar am Nachmittag. Und nachts kann ich, wenn ich nicht zu müde bin, noch einmal zwei Stunden arbeiten. Die restliche Zeit verbringe ich mit meinen Kindern oder lese. Manchmal schaue ich fern.
Gibt es einen erträumten Leser?
Ja. Den, der sich gründlich mit dem Gesamtwerk eines Schriftstellers beschäftigt. Nur ein einziges Buch von Camus zu lesen, scheint mir zum Beispiel unverzeihlich. Oder ein einziges Buch von Flaubert. Oder von Stendhal. Man muss alles von Stendhal lesen, muss seine Bücher suchen, sammeln, liebkosen. Eine andere Art des erträumten Lesers ist der romantische Leser, der den «Werther» liest und dann Schluss macht, indem er sich eine Kugel in den Kopf schiesst; oder der, der Kerouac liest und auf einer Landstrasse im Regen endet, beim Trampen; oder der, der den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick liest und dann beginnt, finstere Komplotte zu schmieden. Aber das geht vielleicht zu weit. Ich möchte nicht, dass meine Leser leiden. Ich möchte nicht, dass sie jung sterben.
Jedes Ihrer Bücher wirkt wie ein weiterer Versuch, «das Böse» zu ergründen. Glauben Sie an das Böse? Wie schaut es aus?
Ja, ich glaube, dass das Böse existiert. Wie es aussieht, weiss ich nicht. Vermutlich trägt es viele Masken. Das Böse ist vielleicht die Dummheit. Oder die Dummheit ist die Höhle, in der sich das Böse verbirgt. Wenn ich vom Bösen rede, meine ich nicht das gewöhnliche Böse – Folge einer bestimmten Erziehung, einer gewissen Kleinlichkeit oder der Missgunst, sondern das absolut Böse, das unwiderruflich all unsere moralischen Werte zerstört. Das heisst: das Böse, das zuallererst im Spiegel erscheint.
Kritiker sprechen schon von einer «Bolaño-Galaxis»: einer Welt des Wahns, bewohnt von Monstern und Dämonen, Exzentrikern und Fanatikern. Aufruhr, Mord und Folter, überhaupt alle nur denkbaren Formen von Gewalt, sind alltäglich. Viele Figuren leben am Rand des Wahnsinns und des Selbstmords. Beschreiben Sie eigene Ängste und Gespenster – oder ist alles nur Spiel?
Bedauerlicherweise ist es kein Spiel, das Lachen aber auch kein schlechtes Gegengift, um bei Verstand zu bleiben. Lachen ist so gesund wie sonst kaum etwas und über den Tod zu lachen das Gesündeste überhaupt, selbst wenn einem nur noch wenige Sekunden Leben bleiben.
AUFKLÄRUNG UND TERROR
«Die Naziliteratur in Amerika», diese fiktive Literaturgeschichte im Stile Borges‘, mit der Sie bekannt geworden sind, beschreibt – voller Spott und Faszination – eine imaginäre rechte Kunstszene. Wird Ihr Buch durch das Etikett «Nazi» nicht eher missverstanden?
Ja, durchaus. Wo von Nazis die Rede ist, kann man auch «Stalinisten» lesen. Man könnte sogar «mittelmässige Hurensöhne» lesen.
Der Held Ihres Romans «Stern in der Ferne», Carlos Wieder – exzentrischer Poet und Folterspezialist für Pinochets Geheimdienst -, wirkt wie die Inkarnation korrumpierter Kunst. Worin besteht in der Realität die von Ihnen oft geschilderte Verbindung von Literatur und Terror?
Wieder ist die Verkörperung des absolut Bösen, über das wir eben gesprochen haben. Und er ist Künstler. Es gibt das absolut Böse, und es gibt die absolute Kunst. Beide werden die Anwesenheit von etwas «anderem» nicht dulden. Denn das Absolute monologisiert nur, es führt keinen Dialog. Jedes moralische Mass, die Vernunft und alle ethischen Einwände werden ignoriert. Die Aufklärung existiert nicht mehr, es herrscht blanker Terror.
Mit den «Wilden Detektiven» (1998) sind Sie zurückgekehrt in die Jugendheimat Mexiko. Was fühlen Sie, wenn Sie an Mexiko denken? Welche Assoziationen wurden beim Schreiben geweckt?
Mexiko Stadt ist für mich eine Stadt der Gespenster. Ich habe viele Einladungen zu Schriftstellerkongressen und für Universitätskurse erhalten, aber nie eine angenommen. Mehr als zwanzig Jahre setzte ich keinen Fuss in diese Stadt, obwohl mein Vater dort lebt. Meine Beziehung zu Mexiko war überaus intensiv, doch das hat sich erledigt. Jetzt befindet sich Mexiko in meinem Kopf, in meiner Phantasie; meine Ferien verbringe ich lieber an interessanteren Orten.
Können Sie sich vorstellen, wieder in Mexiko zu leben?
Nicht in meinen schlimmsten Albträumen. Ich würde sogar – und das heisst viel – eher in Santiago de Chile leben. Ich wiederhole: Ich denke nicht daran, nach Mexiko zurückzukehren.
Ihr neues, fast abgeschlossenes Werk, tausend Seiten stark, soll – so äusserten Sie halb im Scherz – ein Klassiker des Jahres 2300 werden. Was ist das Besondere an diesem Buch?
Schauen Sie, der Roman wird vermutlich ein Fehlschlag. Scheitern ist nichts Neues. Aber ein Schriftsteller sollte bei jedem Roman, erst recht, wenn er sehr umfangreich wird und die Niederschrift lange dauert, zumindest versuchen – ich sage: versuchen -, ein Meisterwerk zu schaffen, ein einzigartiges, dauerhaftes Werk. Im Rahmen des Möglichen, klar, denn wir alle wissen, dass die Resultate allen menschlichen Strebens auf lange Sicht vergänglich sind. Oder wie Mario Santiago, der in «Die wilden Detektive» den Namen Ulises Lima trägt, zu sagen pflegte: «Mehr Zeit heisst nicht mehr Ewigkeit.»
Quelle: NZZ Online
One Response to “Unser Teil der Traurigkeit”
„Er reite in einer Rüstung in den Krieg, aber darunter trage er das Kleid eines Narren.“
So findet man alte Bekannte wieder. Wir erinnern uns an Hans Reiter alias Benno von Archimbldi, der sich im 2. Weltkrieg als Parzival erkannte, sich mit ihm identifizierte.
Und auch das Folgende gefällt mir sehr:
„Gibt es einen erträumten Leser?
Ja. Den, der sich gründlich mit dem Gesamtwerk eines Schriftstellers beschäftigt.“
Und dann nennt er ihn noch, den Stendhal! … und …