Verschiedene Motive
Wie schon von Herbert Fraunhoffer bemerkt, ist die Bedeutung der beiden Auftraggeber Hass und Furcht durchaus schwierig zu entschlüsseln. Letztlich scheinen sie mir einfach als symbolische Ankündigungen der sich innenpolitisch zunehmend aufladenden Situation in Chile,vor allem nach der Regierungsübernahme durch Allende und die Unidad Popular, die nach Urrutias Rückkehr erfolgt. Der Verdrängungs- und Fluchtversuch in dieser Situation, wie ja schon mehrfach bemerkt, verschiebt sich wiederum auf das Feld der Sublimierungen und Ästhetisierungen – während sein Land sich zunehmend politisiert und vor allem polarisiert, flüchtet sich Urrutia nicht nur geographisch, sondern auch gedanklich auf entferntes Terrain: Probleme der europäischen Kirchenarchitektur.
Schon die Reise nach Europa ist wiederum symbolisch aufgeladen: das Schiff, das ihn nach Italien bringt, trägt den Namen Donizetti und verweist wohl auf den italienischen Opernkomponisten Gaetano Donizetti, der wie schon beim Verweis auf Huysmans zu Beginn des Buches eine Biographie zwischen Kirche (als Komponist formstrenger Kirchenmusik) und (weltlicher) Kunst (als Opern-Komponist)aufweist und, interessantes Detail, am Ende seines Lebens in einem Pariser Irrenhaus endete, wo sich evtl. eine Parallele zum Motiv des Deliriums bei Urrutia erkennen lässt.
Auch wenn dieser Punkt durchaus Interpretationssache ist, so liegt die Sache bei dem auf S. 86 genannten Intertext wohl eindeutig: Urrutia organisiert eine Lesung von „Nocturno“, eines Gedichtbandes des kolumbianischen Dichters José Asunción Silva. Ohne dieses Buch im Detail zu kennen, kann ich sagen, dass auch dort wieder verschiedene Themen, die im Nachtstück („Chile nocturno“ verweist ja schon im Spanischen auf den Zusammenhang) eine Bedeutung haben, präsent sind: Vergänglichkeit, das Motiv des Erinnerns (in diesem Fall an Silvas verstorbene Schwester, die ihn zu zahlreichen Gedichten inspirierte), allgemein ein große Düsternis und Schwere. Hinzu kommt natürlich auch, dass Asunción Silva als früher Vertreter dessen, was Darío später als „Modernismo“ taufen würde, auch für eine ganz bestimmte literarische Haltung steht: das „l’art pour l’art“, die Schaffung literarisch-fantastischer Kunstwelten, etc. – kurz: alles, was sich auch mit Urrutias Haltung bzw. „Flucht“ nach Europa verbinden lässt.
Als letzter Punkt soll das Falkenmotiv natürlich nicht unerwähnt bleiben. Auch wenn die Verbindung zu Sordello natürlich ganz klar ist, wie Günter Landsberger schon bemerkt hat, dominiert doch stark die Krieg-Frieden-Metaphorik in dem Bild der Falken und der Tauben. Tatsächlich war es in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen durchaus gebräuchlich, diese beiden Bilder zur Unterscheidung verschiedener ideologischer Positionen innerhalb der jeweiligen Streitkräfte zu benutzen. Meiner Meinung nach aber wird hier auch ganz klar auf die gegensätzlichen Haltungen von Allende und Pinochet referriert: Allende, der einen Bürgerkrieg um jeden Preis vermeiden wollte und sich bis zuletzt an die Verfassung als Legitimationsbasis klammerte, und die Militärs um Pinochet, deren einziges Mittel die Gewalt war. Interessant ist im Zusammenhang damit auch der Traum Urrutias auf S. 99, wo es heißt: „Ich erblickte einen Schwarm Falken, Tausende von Falken, die in großer Höhe über den Atlantik in Richtung Amerika flogen.“ Wie dieses Traumbild, das ja wohl für die sich ankündigende (militärische) Gewalt in Amerika steht, genau gedeutet werden kann, darüber bin ich noch unschlüssig: Ich hätte spontan auf eine Parallele getippt zu der Einflussnahme der US-Regierung in Südamerika, die ja nicht unwesentlich an der Installierung verschiedener Militärregierungen in Südamerika beteiligt war. Aber warum fliegen die Falken dann von Europa aus, werden die USA nie mit keinem Wort erwähnt? Oder steht Europa in dem Fall für den „entwickelten“ Westen allgemein und schließt die USA mit ein? Ich habe meine Zweifel…
Wo meiner Meinung nach aber auf jeden Fall eine Parallele besteht, ist in dem Bild der Kirchenmänner: in Europa trainieren sie die Falken, um die Tauben zu töten; in Chile wird Urrutia (das nehme ich jetzt einfach schonmal vorweg) Pinochet und der Junta Unterricht in Marxismus-Theorie geben, um ihn und seine „Falken“ in Bezug auf die (linken) „Tauben“ zu trainieren.
One Response to “Verschiedene Motive”
Hallo, das ist ja lustig: Da bin ich auf der Suche nach Informationen über das Schiff, mit dem ich als Kind (1976) von Chile nach Europa (Genua) fuhr, und treffe auf diesen Artikel. Dann kann ich zumindest auflösen, dass man sich nicht weiter in Deutungen um den Schiffsnamen bemühen muss – die Donizetti war eben damals /das/ Schiff, dass die Route Valparaiso – Genua fuhr, ganz ohne Anspielungen im Namen 😉
Herzliche Grüße, Jule