Warum Bolaño lesen?

Es gibt Autoren, deren Stil nimmt einen sofort gefangen. Der Rhythmus ihrer Sätze, die Bildlichkeit, die genaue Beschreibung, all das erzeugt beim Lesen weniger Zeilen bereits einen Sog, der einen nicht mehr loslässt. Roberto Bolaño gehört nicht zu diesen Autoren. Dann gibt es Autoren, deren Geschichten so spannend sind, dass man sie nicht eher aus der Hand legt, bis man weiß, wie sie ausgehen. Roberto Bolaño gehört auch nicht zu diesen Autoren. Seine Einzigartigkeit besteht gerade darin, dass seine Bücher in mancher Hinsicht dem zu widersprechen scheinen, was man landläufig unter guter Literatur versteht. Ganz einfach, weil sie selbst einen neuen Standard setzen. Die Sprache seiner Prosa ist so einfach, dass jeder sie verstehen kann, aber sie ist nicht zu einfach. Wenn es sein muss, nehmen sich seine Sätze den Platz, den sie brauchen, aber sie führen das nicht vor, sondern behalten ihr Understatement. Der Leser bemerkt immer erst im Nachhinein, dass da etwas anders ist, als es gewöhnlich in der Literatur der Fall ist.
Roberto Bolaño ist der Autor des Zurückblätterns. Wer seine Bücher liest, wird diese Erfahrung immer wieder machen: Man liest, und mit einem Mal wird einem klar, dass dort gerade ganz und gar erstaunliche Dinge vorgehen. Man blättert zurück, nicht aus Unverständnis, sondern aus ungläubigem Staunen. Man liest die Wörter, die Sätze, die Abschnitte, und alles scheint so einfach zu sein, mit leichter Hand hingeworfen, fast schon nachlässig hier und da – doch der Effekt ist ungeheuerlich. Unter der Hand verändert Bolaño unseren Blick auf das Schreiben und das Leben, die Grenzen verwischen, wir werden nicht nur Zeugen, sondern auch selbst Gegenstand einer Verwandlung. Seine Erzählungen und Romane bilden trotz ihres Realismus nicht einfach die Realität ab, aber sie erschaffen auch keine künstliche Welt, in die wir hineinflüchten könnten. Sie eröffnen vielmehr einen Raum, der noch realer ist als die Realität: sie führen uns ins Offene.
Wir können uns im Offenen nicht dauerhaft einrichten, aber wer Bolaño liest, erfährt für die Dauer der Lektüre (und immer auch ein wenig darüber hinaus), dass die Welt um uns herum immer nur eine mögliche ist, dass alles auch anders sein könnte und vielleicht sogar ist. Diese Erfahrung ist es, die beim Lesen früher oder später zwei Gefühle hervorruft, die einander zu widersprechen scheinen und doch bei Bolaño untrennbar verbunden sind: Freude und Melancholie. Freude, weil er uns daran erinnert, dass das Leben in der Tat ein Abenteuer sein kann, in dem wir als wilde Detektive immerzu nach Fährten suchen; und Melancholie, weil das Leben selbst der Fall ist, dessen Lösung wir nicht finden werden.
One Response to “Warum Bolaño lesen?”
Nicht dass ich dem Plädoyer, fast schon eine Hymne, (zu recht!) Bolaño zu lesen widersprechen möchte, im Gegenteil. Als ich den Beitrag das erste Mal las, empfand ich Zuneigung und ähnliches Empfinden bei der Lektüre Bolaños. Aber dann dachte ich, der zweite Satz stimmt für dich nicht. Jedes Mal, wenn ich ein Buch Bolaños zu lesen beginne, zieht mich geradezu die Art des Erzählens wie ein Sog in den Text hinein. Auch bei Amuleto ging mir das so, obwohl ich ja schon den Zeugenbericht aus DwD kannte. Das mit dem Zurückblättern ist absolut richtig, eigentlich könnte ich ständig zurückblättern… Seine Bücher sind keine Krimis und auch keine Horrorgeschichten(und wenn er diesen Begriff gebraucht (Amuleto), dann ist er anders gemeint, bei Amuleto politisch. Das er den Leser ins Offene führt ist auch sehr gut beobachtet. Aber warum soll ich mich in diesem Offenen nicht einrichten können? Im Gegenteil, das Offene ist so etwas wie Toleranz, die muss man ständig aushalten und üben, auch wenn es nicht bequem ist. Einen Schluß oder eine Lösung, die wir wie auf einer Fährte suchen müssten, gibt es bei Bolaño nicht. Und wenn, dann ist es der krumme Pfad in die Ewigkeit. Das Gegensatzpaar Freude und Melancholie würde ich durch Hoffnung und Melancholie ersetzen, aber jetzt will ich Schluß machen mit der Krittelei, denn eigentlich hat mir dieser Beitrag gut gefallen.