Zellengenossen
„Zellengenossen“: ICH UND MEINE UNBEGREIFLICH WAHNSINNIGEN FRAUEN
Sofia heißt in diesem Fall die spanische, antifranquistische Studentin, die zur gleichen Zeit wie der Erzähler 1973 in Chile in Spanien im Gefängnis sitzt. (Bolaño spielt mit der eigenen Biographie) Jetzt ist sie seine promiskuitive Geliebte. Wir befinden uns im Umfeld eines spanischen Studentenmilieus, in der man Sekundärliteratur über Hegel liest, die die Frauen natürlich nicht verstehen. Sie sind dazu da, beschlafen zu werden, und möglichst nicht immer in der gleichen Stellung. Sofia schläft zur gleichen Zeit mit einem kommunistischen Kommilitonen. Sie war allerdings auch schon mit Emilio verheiratet, man studierte die gleiche Fachrichtung. Gelesen wird Valerie Solanas und Ronald D. Laing. Der Erzähler liest die Sonette des letzteren! (Prosa und Lyrik, was für ein Spannungsverhältnis) Dem Übersetzer Christian Hansen haben wir übrigens das schöne Wort „wüstensonnenuntergangsrot“ (S. 155) zu verdanken. Im Spanischen ein ganzer Nebensatz aus fünf Worten: „un rojo de desierta crepuscular“, und wer würde dabei von uns nicht an die mexikanische Wüste denken („2666″). Sofia hat auch eine Freundin, Nuria, die genau wie Emilio Gymnasiallehrerin ist. Von ihr erfährt der Erzähler den weiteren Lebensverlauf Sofias.
Die Studentenwohngemeinschaft hat sich aufgelöst, der Erzähler bleibt einsam zurück und die Beziehung zu Sofia versickert nachdem man noch gemeinsam nach Portugal trampte und leidenschaftliche Nächte verbrachte. Sofia gleitet in eine Monate andauernde psychische Erkrankung ab. Sie verkraftet ihre Scheidung und ihre gescheiterten Beziehungen nicht. Verstört lebt sie mit einem neuen „Begleiter“ zusammen, dem sie irgendwie hörig zu sein scheint, was den Erzähler schockiert. Sie habe sich von einer unabhängigen, politisch denkenden Studentin in eine abhängige, unemanzipierte Frau verwandelt. Er erkennt sie nicht wieder. Von Nuria, wie gesagt, erfährt der Erzähler später die „einfach[e] [und] unbegreiflich[e] Geschichte“ (S. 164) des Mordversuchs Sofias an ihrem Exmann Emilio.
Unbegreiflich sind Bolanos Erzählungen und auch seine Frauenfiguren immer. Das Spiel mit realen und surrealen Versatzstücken macht die Frage nach der Plausibilität überflüssig, vergleichbar etwa mit der Frauenfigur in Stefan Zweigs Meisternovelle „Brief einer Unbekannten“, die aus heutiger Sicht auch eher unrealistisch und unwahrscheinlich erscheint. Schon der zumindest im Deutschen erste Satz: „Es traf sich…“ (S. 155 spanisch: Coinzidimos…) beginnt wie im Märchen. Sofia hatte also zusammen mit ihrem neuen Begleiter versucht, Emilio umzubringen. Doch der Erzähler besucht die schizophren wirkende Sofia erneut, die in einer merkwürdig leeren, auch von Büchern befreiten, Wohnung lebt. Sie schlafen wieder miteinander, aber Sofia fühlt sich „eiskalt wie eine Tote“ (S. 167) an. Ein Raum in der Wohnung ist verschlossen. Auf die Frage nach dem Verbleib ihres Begleiters antwortet Sofia mit einem vollkommenen Lächeln. Die beiden ziehen sich an und gehen in eine Pizzeria essen.
Bolano erzählt wie immer spielerisch, Realität und subjektive Erzählebene fließen ineinander über. Einen Text lesen heißt, in ihm zu träumen, aber auch gelegentlich aufzuwachen. Liegt der Begleiter tot in dem verschlossenen Raum, die scheinbare Schlußpointe der Erzählung? Warum sind die Frauen bei Bolano alle psychisch zumindest labil? Warum erfährt der Leser wenig über die Promiskuität oder Nichtpromiskuität des Erzählers?
Dietmar Hillebrandt (55), ehemaliger Bibliotheksobersekretär und EDV-Administrator, z. Zt. Versorgungsempfänger und drittklassiger Lyriker.
One Response to “Zellengenossen”
Zusätzliche Notizen von Dorota Federer:
„Zellengenossen“ erzählt von der sehr schönen Sofia und dem namenlosen Ich-Erzähler. Beide wurden 1957 in verschiedenen Städten verhaftet, den Grund für die Verhaftung erfahren wir allerdings nicht.
Sie waren Geliebte, wohnten zusammen in einer Wohnung, sie war sehr grosszügig, was ihr Liebschaften betraf und schlief mit vielen Männern „in allen denklichen Liebesstellungen“.
Sofia und ihr „Mann“ haben versucht Emilio – Sofias Ex-Mann umzubringen. Der mysteriöse „Mann“ verschwindet am Ende der Erzählung.
Sofia ist krank, nimmt Valium und isst fast nur Kartoffelpure.
Sehr schlicht geschrieben, durchströmt die Geschichte eine gewisse Wärme, aber auch der Wahnsinn der Liebe. Abschiede sind stets gegenwertig, denn es ist nicht nur Abschied zwischen Sofia und Emilio, Abschied zwischen Sofia und ihrem „Mann“. Es ist wohl auch Abschied zwischen Sofia und dem Ich-Erzähler.
Erst später treffen sie sich wieder, indem sie zur gleichen Zeit inhaftiert werden.